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Gebetserhörung oder Wunder?: Annis Auferstehung

Als seine Frau schon so gut wie tot war, flehte Hans Naber den Himmel an – und sie blieb ihm erhalten. Der Prälat der Gnadenkapelle sieht darin zwar nur eine "Gebetserhörung", doch Naber ist zum Wunder entschlossen.

Um elf Uhr abends ist er dann gegangen. Die Ärzte hatten es ihm schon die ganze Zeit gesagt. Gehen Sie nach Hause, Herr Naber, es hat doch keinen Sinn mehr, gehen Sie heim. Und es stimmte ja. Die Anni hat keinen Mucks mehr gemacht. Schon seit dem frühen Morgen nicht mehr, als sie plötzlich in eine Ohnmacht gefallen ist und er den Krankenwagen gerufen hat. Jetzt hat er den ganzen Tag an ihrem Bett gesessen auf der Intensivstation, und die Ärzte haben gesagt, es ist fast kein Leben mehr in ihr. Den 60. Hochzeitstag, den diamantenen, werden wir nicht mehr miteinander feiern, hat sich Hans Naber gedacht.

Natürlich hat er nicht schlafen können, als er zu Hause war. Mit dem Taxi hatte er sich heimbringen lassen, nach Pillnach, ein Dorf beim niederbayerischen Straubing, wo er sich ein Haus gebaut hat, vor mehr als 50 Jahren. Und weil er nicht schlafen konnte, hat er gebetet, lange hat er gebetet. Er ist sowieso ein großer Beter, zwei Rosenkränze jeden Tag, das ist das Mindeste. In dieser Nacht hat er sich daran erinnert, wie die Anni und er immer zusammen gebetet haben, ihr ganzes Eheleben lang. Am schönsten war das Beten immer, wenn sie nach Altötting gefahren sind, in die Wallfahrtsstadt, 100 Kilometer von ihrem Dorf entfernt. Oft sind sie dorthin gefahren, sehr oft, zur Gnadenkapelle, in der die Schwarze Madonna steht, und haben der Mutter Gottes gesagt: Hilf uns, wenn wir einmal deine Hilfe brauchen. Daran hat er gedacht in dieser Nacht, und irgendwann ist Hans Naber dann doch eingeschlafen.

Aber er ist gleich wieder aufgewacht, und um sieben Uhr morgens saß er erneut am Bett im Krankenhaus, so, wie er gestern gesessen hatte, und seine Frau lag da, wie sie gestern lag, und die Ärzte sagten, was sie gestern gesagt hatten.

Um halb neun schlug Anni Naber die Augen auf. Sie hatte plötzlich ein Kreuz gesehen, ein großes Kreuz. Es war aus braunem Holz, auf dem Holz war eine Christusfigur. Und Anni Naber war von diesem Augenblick an wieder da. Es war der 26. April 2009.

Zum Beten fuhren sie nach Altötting. Neber sagt: "Oideding"

Ihr Mann hat dann ein Bild gemalt, eine sogenannte Votivtafel, und hat es nach Altötting – „Oideding“ sagt Hans Naber in seinem ungestümen Niederbayerisch – zum Prälaten Limbrunner gebracht. Weil der Prälat für die Gnadenkapelle und ihr Wunderwirken zuständig ist. Und wenn die Genesung seiner Frau kein Wunder ist, sagt Hans Naber, dann weiß man nicht mehr, was ein Wunder sein soll. „250 Blutdruck, Hirnhautentzündung, Lungenentzündung, 40 Fieber“, sagt Hans Naber, „die war so gut wie tot – und auf einmal ist sie kerngesund.“

So ganz kerngesund ist die Anni Naber mit ihren 85 Jahren nun doch nicht gerade, wie sie da im Rollstuhl in ihrer Wohnküche im Dorf Pillnach sitzt und aus der Schnabeltasse trinkt. Die Schlaganfälle, die sie schon vor jenem Wundertag erlitten hatte, haben sie schwer gezeichnet. Gehen kann sie schon lange nicht mehr, auch das Sprechen fällt ihr schwer. Dreimal täglich kommt der Pflegedienst. Aber, auch das ist wahr, verglichen mit den dramatischen Stunden des 26. April 2009 ist sie das blühende Leben.

Das Bild, das Hans Naber gemalt hat, das hat der Prälat gerne angenommen. Die Anni, ernst und bleich im Krankenbett, mit strengem Scheitel, und dahinter das Christuskreuz. Und er hat es gleich auf den Altöttinger Kapellplatz zur Gnadenkapelle gebracht, hat es an einer der seltenen Stellen aufgehängt, wo noch Platz ist. An die 2500 solcher Votivtafeln hängen in dem überdachten Umgang, der sich wie ein kleiner Kreuzgang um die Kapelle windet, hängen an den Wänden, kleben an der Decke. 2500 Dokumente der Wunder und der Wundergläubigkeit. Rettung aus Kriegsgefahr ist ein wiederkehrendes Motiv, meist aber geht es um die Heilung von Gebrechen und Leiden. „Ich kann wieder gehen, Maria hat geholfen.“

Natürlich bezeugen die 2500 Dankestafeln nur einen Bruchteil des Altöttinger Wundergeschehens. Von etwa 50 000 übernatürlichen Errettungen wird berichtet, seitdem sich im Jahr 1489 hier das erste Mirakel zutrug. Ein dreijähriges Kind war in den Bach gefallen und konnte erst nach einer halben Stunde aus dem Wasser geborgen werden. Die Mutter brachte den leblosen Knaben in die Kapelle zur Madonna, legte ihn auf den Altar, fiel auf die Knie und schickte verzweifelte Gebete zum Himmel. Alsbald schlug das Kind die Augen auf und war lebendig.

Die Nachricht verbreitete sich eilig in der bayerischen Welt und über diese hinaus, die Pilger kamen herbei, die Mühseligen und Beladenen, und fortan gab es der Wunder und Wunderlichkeiten kein Ende mehr. Altötting wurde zum meistbesuchten Wallfahrtsort Deutschlands und ist es auch heute noch. Eine Million Pilger kommen jedes Jahr hierher, und es werden nicht weniger. Im Gegenteil, seit Benedikt XVI. auf dem Heiligen Stuhl Platz genommen hat, erlebt Altötting einen neuerlichen Aufschwung, einen Frömmigkeitsschub geradezu. Schließlich ist das hier das Land des Joseph Ratzinger. In Marktl, nur wenige Kilometer entfernt, ist er geboren, im nahen Traunstein ist er aufs Priesterseminar gegangen und 2006 hier gewesen, im Herzen der bayerischen Gottesfurcht. Die Altöttinger haben das prächtige Palais am Kapellplatz auf seinen Namen getauft, und die Devotionalienhändler nebenan verkaufen Papst-Bilder in allen Größen und Farben, Papst-Medaillons, Papst-Bücher und Papst-Bier in der Halbliterflasche.

Das Geschäft mit der Frömmigkeit ist gerade im bayerischen Katholizismus ja keineswegs verboten, sondern ein durchaus erwünschter Nebeneffekt. Je höher die Wundertätigkeit der Madonna, umso mehr Pilger machen sich auf den Weg, und umso höher sind die Übernachtungszahlen in den Wirtshäusern der Stadt, etwa im Gasthof Post des früheren CSU-Großpolitikers Gerold Tandler. Und je mehr Pilger ihre Fürbitten zu Muttergottes senden, umso höher ist – jedenfalls nach der inneren Logik dieser Gläubigkeit – die statistische Wunderwahrscheinlichkeit. So hat jeder etwas davon, die Stadt lebt nicht schlecht von den Pilgerströmen.

Aber es wäre wenig gerecht, wollte man die Altöttinger Volksfrömmigkeit aufs ökonomische Wohlergehen verkürzen. Das spürt man sofort, wenn man durch die Stadtgassen hinaustritt auf besagten Kapellplatz mit seinem prächtigen Barockfassaden. Ostern beginnt die Saison, erlebt ihren ersten Höhepunkt im Marienmonat Mai, ihren zweiten im August zu Mariae Himmelfahrt und geht hinein bis in den Oktober. Aber schon in der Vorsaison hat dieser Ort seinen ganz eigenen Zauber. Aus den Fenstern der Musikschule, gleich neben der Stiftskirche, steigt schwellender Chorgesang, ein süßer Geruch liegt über dem Platz, weil die frommen Händler Weihrauchkerzen vor ihren Geschäften angezündet haben, schwarze Klosterschwestern huschen vorbei, und in den Cafés mischen sich Stimmen aus allen Sprachen.

Eine Madonna aus Rindenholz, vom Ruß der Jahre geschwärzt

Das Zentrum der Wundertätigkeit versteckt sich hinter einer Pforte und zwei Oleanderbüschen – die Gnadenkapelle, ein kleines, gedrängtes Achteck, beleuchtet vom Flackern der Kerzen, das sich in Gold und Silber spiegelt. Hier thronen die prächtigen Gefäße, in denen die Herzen der Wittelsbacher Könige ruhen, auch das von Ludwig II., dem Bauherrn von Neuschwanstein. Und über dem Altar, da steht sie, die geheimnisvolle Schwarze Madonna aus Lindenholz, die der Ruß der Jahrhunderte dunkel und dunkler werden ließ. Es ist ein Kraftraum, und wem die Neigung zu religiöser Verzückung nicht fremd ist, kann ihr hier erliegen.

Bei solchen Gedanken hätte das runde Gesicht des Prälaten Limbrunner, der gleich gegenüber der Gnadenkapelle residiert, bestimmt der rosige Schein einer milden Begeisterung überzogen. Denn das ist ja die Gewissheit des Altöttinger Wunderverwalters: dass dieser Ort einen rätselhaften Magnetismus birgt. „Es ergreift mich“, sagt er, „wenn die Leute ergriffen sind.“ Nun gerät er in sein Element, weiß von Mysterien zu sagen, von der Herzensnot der Menschen, die hierher kommen, um eben diese Not abzulegen, die Not der Sünde. „Maria, bitte für uns Sünder! Das ist der Schall des Ortes!“ In der Woge der pilgernden Sünder, sagt er, kann jeder mitgehen. „Ein Gnadensog“, ruft er aus, „ein herzzerreißender Vorgang.“

Aber nun, wie ist es mit den Wundern, Herr Prälat? Die Geschichte von Hans Naber und seiner Frau? Da wiegt Ludwig Limbrunner den Kopf, und so enthusiastisch er eben noch gewesen ist, so zögerlich wägt er nun das große Wort. Wunder? Das sei schwer zu sagen, denn hier in Altötting habe man ja keine Wunderkommission wie etwa in Lourdes, die jeden Fall genau untersuche. „Sprechen wir lieber von einer wunderbaren Heilung.“ Im Übrigen sei es nun notwendig, eine grundsätzliche Unterscheidung zu treffen. Nämlich die zwischen Wunder und Gebetserhörung. Natürlich sei die Grenze zwischen beiden fließend, und nur die Seele des Einzelnen könne ergründen, worum es sich in seinem Fall handle. Aber, nun ja, ein klassisches Wunder, das komme eher selten vor, er jedenfalls habe das in den zwei Jahren, in denen er dieses ehrenvolle Amt bekleide, noch nicht erlebt, obwohl er stets damit rechne, bei Gott ist kein Ding unmöglich.

Gebetserhörungen hingegen kämen so gut wie jeden Tag vor. Das weiß er deshalb, weil er täglich hingeht zu den Votivtafeln an der Kapelle, und da sammelt er die zahllosen kleinen Zettel ein, die die Erhörten in die Wandritzen hinter die Tafeln stecken. „Danke, Maria“ steht darauf. Danke für die bestandene Prüfung, Danke für die Geburt eines Kindes, Danke für eine neue Liebe. Auch auf den Tafeln selbst ist viel von solchen Gebetserhörungen die Rede. Da dankt zum Beispiel eine Pilgergruppe dafür, dass sie 2004 auf einer Thailand-Reise vom Tsunami verschont wurde. Und dass Maria eine ganz moderne Maria ist, bezeugt die Danksagung eines frommen Mannes für den bestandenen Pilotenschein. Gebetserhörungen also, Wunder sind eine andere Sache.

Täglich zieht er zerdrückte Dankesbriefe aus den Wandritzen

In der Wohnküche des Ehepaars Naber aber ist das Wunder so leibhaftig, als würde es geradewegs vor einem stehen. Denn Hans Naber erzählt nun noch einmal und noch einmal, wie das gewesen ist mit der Anni, wie sie das Kreuz gesehen und die Augen aufgemacht hat. Da rinnen ihr Tränen über das Gesicht, und auch er wird auf einmal ganz still, was eine Ausnahme ist, weil er sonst so gerne und ausufernd redet. Und dann fließen auch ihm Tränen aus den Augen.

Fast übergangslos aber freut er sich gleich wieder seines 82-jährigen Lebens, man muss sich Hans Naber als einen fröhlichen Menschen vorstellen. Und über dieses Leben, über seines und über das seiner Frau, muss er jetzt wirklich allerhand erzählen. Wie er als Schuhmacher begonnen hat, wie er dann Futtermittelvertreter wurde und viel, viel Geld verdient hat, weil er so tüchtig war, und auch die Anni war tüchtig, erst als Forstarbeiterin, dann in einer Elektrofirma, ach, das ist lange her.

Und er schlägt sich mit der flachen Hand auf die Schenkel. „Ha!“, ruft er begeistert von diesem Lebenslauf, „ha!“, immer wieder, und jeden zweiten Satz beschließt er mit der triumphalen Vergewisserung: „Woaßt scho!“ Und dann springt er auf, muss jetzt schnell ins Nebenzimmer gehen, die Bilder zeigen, die er gemalt hat. Denn ein Maler ist er ja auch. Woaßt scho.

Obwohl, manchmal ist das alles so einfach nicht gewesen. Eines Tages hat er nämlich Leukämie bekommen, aber auch das ist lange her und längst überwunden. Und dann erst vor Kurzem diese Operation, den halben Fuß haben sie ihm wegschneiden müssen, Durchblutungsprobleme, die Raucherei. Und Kinder, nein, Kinder haben sie keine bekommen, aber zusammengehalten haben sie immer, gell, Schatzi, sagt er, und sie sitzt in ihrer schwarzen Strickjacke dabei, und dieses Leben, man beginnt es zu ahnen, ist ein vergnügtes Leben gewesen. Und ein Leben ohne Zweifel, ein wohlgefälliges Leben im Dienste des Herrn und der Muttergottes vor allem. Deshalb hat Hans Naber auch niemals daran gezweifelt, dass es sich bei der Anni um eine Wunderheilung gehandelt hat.

Im Krankenhaus von Wörth an der Donau, in das sie damals gebracht wurde, sieht man das ein wenig nüchterner. Bernd Semsch, der Arzt, erinnert sich noch gut an den Fall. Ja, es stimmt, die Frau Naber sei wirklich schlimm dran gewesen, „moribund“, sagt er. Aber es habe sich um nichts anderes gehandelt als eine Unterzuckerung, verbunden mit einem Infekt. Und da habe man mit Infusionen gut helfen können. „Für einen Laien sieht das dann aus wie ein Wunder, aber es ist medizinisch erklärbar.“

Nein, damit ist Hans Naber, zum Wunder entschlossen, gar nicht einverstanden. Die Oberärztin auf der Station habe es doch selbst gesagt, als die Anni die Augen aufschlug. „Ich verstehe die Welt nicht mehr“, hat sie gesagt, „das muss ein Wunder sein.“ Hans Naber strahlt.

Die diamantene Hochzeit haben sie dann doch noch gefeiert. Vor drei Monaten.

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