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Der Papst kommt. Das Gemälde von Aris Kalaizis, der 1966 in Leipzig geboren wurde, trägt den Titel „make/believe“ (2009). Es wird von der Maerzgalerie Leipzig/Berlin zur Verfügung gestellt.

© Courtesy Maerzgalerie

Glaubensfrage: Müssen Kunst und Kirche ein Widerspruch sein?

Auf der Suche und Befestigung Ihrer Identität stellen sich zwei Milieus ähnliche Fragen. Wer kann bei diesem Prozess die stärkeren Antworten finden?

Friedrich Hölderlin hat sich in seiner Elegie „Brot und Wein“ (1800/ 1801) mit der Rolle des Künstlers auseinandergesetzt. Darauf beruft sich der Philosoph Martin Heidegger in „Wozu Dichter?“, wenn er mit Hölderlin befindet: „Dichter sind die Sterblichen, die mit Ernst den Weingott singend, die Spur der entflohenen Götter spüren, auf deren Spur bleiben und so den verwandten Sterblichen den Weg spuren zur Wende…“ Es sind also die Dichter und Denker, die den Sterblichen den Weg zu entflohenen Göttern bahnen. Doch wer sind diese Dichter und Denker, diese Künstler und Intellektuellen? Und was ist heute unsere Kirche, wie sehen die Begegnungen beider Milieus tatsächlich aus?

Intellektuelle zeichnen sich aus durch Unabhängigkeit, Kritikfähigkeit und Geistesbegabung, eine genuine Distanz zur Religion gehört nicht zum Charakteristikum des Intellektuellen. Im Gegenteil: Schon Max Weber hat für die Nähe vieler Intellektueller zur Religion den Begriff der „Intellektuellenreligiosität“ geprägt. Und Jürgen Habermas war es, der Intellektuellen einen „avantgardistischen Spürsinn fürs Relevante“ attestierte.

Damit ein solcher Spürsinn sich wirksam entfalten kann, folgt die Kulturpolitik in Deutschland einem zentralen Grundsatz. Im Grundgesetz ist das Fundament staatlicher Daseinsfürsorge für Kultur und Wissenschaft festgelegt. In Artikel 5, Absatz 3 heißt es: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.“ Dies aber können sie nur sein, wenn der Staat ihre Freiheiten schützt, sie unabhängig macht von Zeitgeist und Geldgebern. Kunst und Kultur brauchen Freiraum, um sich entfalten zu können. Was sie nicht brauchen, sind autoritative Vorgaben. Und dies gilt heute umso mehr, als viele Konflikte, hier und in der ganzen Welt, kulturell grundiert sind, Religionsfragen dabei im erweiterten Kulturbegriff immer eingeschlossen.

Freiheit, das ist die für eine Gesellschaft eine existenzielle Komponente, nicht nur für Intellektuelle, sondern für die Zukunft aller. Und was, wenn nicht die Religion, wäre in der Lage, diese Freiheit zu stiften? Der Gottesbezug in unserer Verfassung zeigt dem Staat seine Grenzen, wenn er ihn auf seine „Verantwortung vor Gott und den Menschen“ verweist. Die Religion ist in doppeltem Sinn hier freiheitsstiftend: als Befreiung von staatlicher Bevormundung und als Freiheit zur Gestaltung unseres Gemeinwesens. Beides sind maßgebliche Handlungsmaximen Intellektueller und Künstler – auch ohne ausdrückliche Berufung auf Gott.

Religion und Kirche stehen unter dem Generalverdacht, konservativ, also nicht modern zu sein. Intellektuelle und Künstler stehen für die Ermöglichung der Avantgarde, des Fortschritts. Ist das ein Widerspruch? Der Glaube und das Bekenntnis dazu sind von jeher als eine Befreiung aus Zwängen, als Umkehr und Erneuerung verstanden worden. Insbesondere das Christentum hat sich in der Renaissance, durch die Aufklärung, durch die wissenschaftlich-technische Revolution immer wieder erneuert, sich bewährt. Geschwächt worden aber ist es hier nie so sehr wie durch den Zivilisationsbruch der nationalsozialistischen Barbarei. Ihm folgten die planmäßige Säkularisierung durch das SED-Regime und die große Infragestellung durch die 68er-Generation. So sind in Deutschland die Formen der Frömmigkeit weniger und anders geworden. Ein Gewinn dieser schwierigen Entwicklung ist aber sicher, dass zu unserer heutigen pluralen Gesellschaft eine ebenso vielfältige religiöse Verfassung gehört.

Es sind Religion und Kirche, die kulturelle Identität weit über den Kreis ihrer Mitgliedschaft hinaus schaffen. Sie tun das seit 2000 Jahren mit einer Prägekraft wie sie keine zweite Institution je entwickelt hat. Das fordert auch Intellektuelle und Künstler zur Auseinandersetzung heraus. Waren und sind es also tatsächlich die Künstler, die „den Sterblichen den Weg zu den Göttern ebnen“? Zumindest können sie dies oft besser als alle anderen Instanzen – und sie suchen seit Jahrhunderten bis heute sehr aktiv nach diesen Wegen zu Gott.

Lesen Sie auf Seite 2 und erfahren Sie mehr über Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Kirche und Kultur.

Kirche und Kultur haben dabei ein spannungsvolles Verhältnis zueinander. Gemeinsam ist beiden, dass sie neue Perspektiven eröffnen, den Blick über Vordergründiges hinaus lenken, das Leben deuten wollen. Dazu gehören alle kulturellen Ausdrucksformen, die Unbedingtheit, Authentizität und geistiges Ringen um letzte Fragen verkörpern.

Die Kunst, die in Europa aus dem Dienst an der Religion entstanden ist und immer auch in den Dienst der Verkündigung genommen wurde, hat sich im 20. Jahrhundert allerdings sowohl von den Auftraggebern der Kirche als auch von den Glaubensinhalten christlicher Überlieferung weitgehend entfernt und emanzipiert.

Dieser Autonomieanspruch der Kunst, nichts als sie selbst zu sein, war lange der Grund vieler Konflikte zwischen Kunst und Kirche. Heute ist er eher in der Vielheit sehr individueller Konzepte zu suchen, die ihre eigene Wirklichkeit beanspruchen und das künstlerische und intellektuelle Material zwar durchaus fortschreiben, sich aber dessen komplexer theologischer und kunstgeschichtlicher Substanz oft gar nicht mehr vergewissern. In diesem Sinne sind Glaube, Religion und Kirche zwar nach wie vor Teil der Kunst, der Kultur und des intellektuellen Diskurses.

Aber diese Art der gesellschaftlichen Vergewisserung durch Kunst und Kultur ist nicht mehr unbedingt Teil der Kirchenwirklichkeit. Diese gilt vor allem in lange tradierten Formen und Werken, Verständnisregeln und Funktionsweisen – über die viele Gegenwartskünstler und Intellektuelle übrigens sehr wohl noch verfügen. Es sind eher die Kirchen, denen es schwer fällt, neue und ungewohnte Formen der intellektuellen Auseinandersetzung, auch der Kunst, zu akzeptieren. Erinnert sei nur an die ablehnende Reaktion des Kardinals Meisner auf Gerhard Richters neue Glasfenster im Kölner Dom.

Gleichzeitig stellte Papst Johannes Paul II. in einem „Brief an die Künstler“ die Frage: „Die Kirche braucht die Kunst. Aber braucht die Kunst auch die Kirche?“ Hier kommt zum Ausdruck, was offensichtlich ist. Im Verlauf der Jahrhunderte hat ein Paradigmenwechsel stattgefunden: Heute ist die Religion privat, und die Bilder sind öffentlich. Dabei sind Kirche und Kunst beide auf ihre Weise Orte, an denen Gegenwelten gesucht werden. Moderne Kunst und Kirche begegnen sich, gerade in der Zumutung des Unverständlichen.

Es bleibt schwierig. Aber beide Milieus leben voneinander, denn es sind ja die Intellektuellen, die Kreativen, die Vordenker unserer Gesellschaft, die mit ihrem Habermas’schen „avantgardistischen Spürsinn fürs Relevante“ mit demselben Anspruch wie die Kirchen das Miteinander gestalten, Missstände benennen, Anregungen geben, Antworten auf letzte Fragen suchen. Beide können dies in großem Respekt vor der gleichen Würde der Verschiedenen und in der Bereitschaft, in der pluralen Ordnung einen eigenen Standpunkt zu finden und zu behaupten.

Doch es gibt auch Grenzen. Kunst und Kultur können keine verbindlichen Antworten geben, die Kraft der Kunst liegt vielmehr in der Ästhetik der Unsicherheit, des Fragens, der Irritation. In diesem gesellschaftlichen, kulturellen Diskurs bleibt unsere Kirche seltsam indifferent, wenig hilfreich. Vielleicht bringen Künstler und Intellektuelle Gesellschaft und Religion sogar wieder näher zusammen. Dennoch: Auch wenn Kunst fasziniert, verstört oder verzaubert, sie bleibt doch endlich und von dieser Welt.

Der Glaube aber ruht im Nicht-Sichtbaren, im Unendlichen – in einer Wirklichkeit, die über diese Welt hinausgeht. Wo der christliche Glaube ganz bei sich ist, kann er auch ganz nach außen gehen. Er wagt sich selbstbewusst hinaus auf der Suche nach einer neuen Sprache. Die dabei auftretenden Spannungen zwischen Kunst und Kirche können erweisen, wie zukunftsfähig der christliche Glaube im 21. Jahrhundert ist. Alle, die sich auf diesen Aufbruch einlassen, wissen um Chancen und Risiken. Den Zeugen intellektueller Diskurse, den Betrachtern der Kunst wird zugemutet, sich philosophischen Experimenten zu stellen, sich den Kunstwerken zu öffnen, auch ohne explizit den religiösen Gehalt zu suchen, sondern im Säkularen das Religiöse und im Religiösen das Säkulare zu entdecken.

Offensichtliches und Beweisbares brauchen keinen Glauben. Und auch der Verstand aller Intellektuellen, ihre Vernunft und ihre Phantasie haben Grenzen. Der Glaube aber steht da, wo die Vieldeutigkeit der Welt uns überfordert, wo das Geheimnis um das Unendliche beginnt. Die Demut, mit dieser Erkenntnis zu leben, ist vielen Intellektuellen nicht gegeben – wohl aber denen, die glauben.

Die Autorin ist Berliner CDU-Bundestagsabgeordnete und Vorsitzende des Ausschusses für Kultur und Medien.

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