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Transbajuwarisch. Das Cover der Jubiläumsausgabe von „Lettre International“.

© promo

Globale Kulturzeitschrift: „Lettre International“ feiert 30. Jubiläum

Die Kulturzeitschrift „Lettre International“ versammelt einige der interessantesten Autoren unserer Zeit. Ein einmaliges Heft, intellektuell wie ästhetisch. Nun feiert es 30-jähriges Jubiläum.

Es ist sicher kein Zufall, dass sich ausgerechnet die Jubiläumsausgabe der „Lettre International“ mit einem ganzen Kapitel dem Journalismus von heute widmet, insbesondere seinem mehr oder weniger schleichenden Niedergang. Der italienische Journalist Marco d’Eramo sieht in einem Aufsatz das Ende „der Informationsübermittlung auf Papier“ gekommen, was sich allein daran zeige, „dass deren Verkaufsstände, die Zeitungskioske, immer mehr verschwinden“.

Auch der Radio- und Fernsehreporter Matt Aufderhorst beklagt in seinem „Versuch über das Nachrichtenfernsehen“, dass das aufmerksame Lesen der Tages- und Wochenzeitungen „eine Seltenheit“ geworden sei: „Der schnelle Blick auf die Headlines der jeweiligen Apps ersetzt das Lesen umfangreicher Artikel. (...) Mit den Nicht-schon-wieder-Blicken, die ich abbekomme, sobald ich etwas Gedrucktes preise, könnte ich das TV-Studio alle paar Wochen neu tapezieren.“

Gegen Entwicklungen wie diese stemmt sich alle drei Monate die Kulturzeitschrift „Lettre International“, seit nun genau dreißig Jahren. 1984 von dem tschechischen Autor Antonín Liehm im Pariser Exil begründet, erschien die deutsche Ausgabe erstmals im Mai 1988, und zwar unter Leitung des „taz“-Mitbegründers Frank Berberich. Dieser ist heute noch Herausgeber und Chefredakteur der deutschen „Lettre“, schnauzbärtig, zäh, unverdrossen und leidenschaftlich, stets in dem Bewusstsein, hier etwas Besonderes zu produzieren: ein Heft, das einmalig ist, das jedes Mal gleichermaßen ein intellektuelles wie auch ein ästhetisches Vergnügen ist.

Denn jede Ausgabe wird von Künstlern mitgestaltet, von Jörg Immendorff, der 1988 das Cover der ersten Ausgabe verantwortete, über Georg Baselitz oder Rosemarie Trockel bis zu Tobias Rehberger, der für das Jubiläumsheft, die Nummer 121, den CSU- Politiker Alexander Dobrindt und den Rapper Kanye West gezeichnet hat, wie sie sich wie weiland Breschnjew und Honecker zum 30. Jahrestag der DDR sozialistisch-brüderlich abschmatzen.

Die Lage ist seit Jahren stabil

Und das nicht nur im Sinne von „transbajuwarisch“ und „transkatholisch“, wie es als Erläuterung vorn im Heft steht, sondern auch „transatlantisch“, „interkulturell“ und „grenzüberschreitend“. Gerade Letzteres beherzigen die Autoren und Autorinnen von „Lettre International“. Globalisiert, kosmopolitisch und transkontinental war diese Zeitschrift schon, als die Globalisierung noch nicht unter rein digitalen und ökonomischen Gesichtspunkten betrachtet wurde, und eine Literaturnobelpreisträgerin wie Svetlana Alexijewitsch gehört genauso zum festen Autoren- und Autorinnenstamm wie der indische Essayist und Schriftsteller Pankraj Mishra, Elif Batuman genauso wie Boris Groys, Heinz Bude oder Slavoj Žižek.

Erstaunlich ist, dass sie alle immer wieder dabei sind, wenn Berberich ruft, sie das Renommée von „Lettre International“, ihren kosmopolitischen Geist, ihr Kommunikationsangebot über alle Grenzen hinweg höher einschätzen als das Pekuniäre. Gerade einmal achtzig Euro gebe es pro Seite, sagt Berberich freimütig bei einem Besuch in den Kreuzberger Elisabeth-Höfen unweit des Landwehrkanals, wo „Lettre International“ sein Zuhause hat, und auf so eine Seite passt viel Text, zumal siebzig bis achtzig Prozent der Beiträge eben noch ins Deutsche übersetzt werden müssen.

Der Etat beträgt pro Ausgabe 20 000 Euro, die über Anzeigen, den Einzelverkauf und knapp 7500 Abonnenten im deutschsprachigen Raum, aber auch ein paar in Frankreich hereinkommen. Große Sprünge kann die aus nur drei Festangestellten bestehende Kulturzeitschrift damit natürlich nicht machen, doch die gedruckte Auflage mit bis zu 23 000 Exemplaren ist seit Jahren stabil, vielleicht auch, weil es den Inhalt von „Lettre“ nicht im Internet gibt.

Lange Beiträge mit Erkenntnisgewinn

Es gab Zeiten, da erschien „Lettre international“ in zwölf verschiedenen Sprachen. Inzwischen sind es nur noch vier, neben der deutschen Ausgabe erscheint sie noch in Frankreich, Spanien und Rumänien. Was sicher nicht nur an den geringen finanziellen Mitteln liegt, sondern auch daran, dass die Essays, Reportagen und Analysen manchmal gerade wegen ihrer Länge eine Zumutung darstellen, dass sie etwas Anachronistisches haben.

Auch die sehr langen Interviews, wie im Jubiläumsheft mit dem chinesischen Großkünstler Ai Weiwei über die Verbindung von Kunst und Politik oder mit Karl-Heinz Bohrer über das „Jetzt“, die trotz Aktualitätsbezügen doch von sehr weit draußen kommen. Mit Gewinn liest man jedoch die allermeisten Beiträge, man muss sich nur darauf einlassen, wie auf manches Buch.

So ist es fast schon tragisch, dass vielen Interessierten im Zusammenhang mit dem „Lettre“-Jubiläum zuerst Thilo Sarrazin einfällt. Der hatte 2009 mit Frank Berberich ein langes Gespräch geführt, das sich im Nachhinein wie ein Exposé zu Sarrazins knapp ein Jahr später erschienenem Buch „Deutschland schafft sich ab“ liest – und deshalb bereits Aufsehen erregte, aber auch weil die „Bild“-Zeitung es fast komplett auf ihrer Online-Seite veröffentlichte und Berberich juristisch gegen „Bild“ vorging.

Erschienen war das Sarrazin-Interview in einem tollen und heute noch wunderbar lesbaren 20-Jahre-Mauerfall-Berlin-Heft, „Berlin auf der Couch“, mit Texten von Wolfgang Müller oder Peter Gente, von dem Soziologen Andreas Reckwitz oder Svetlana Alexijewitsch – und am Ende blieb nur Sarrazin im Gedächtnis. Doch Frank Berberich lässt sich davon nicht beirren. „Freimütigkeit, Vielseitigkeit, Originalität, Unbestechlichkeit“, das soll weiterhin die deutsche „Lettre International“ ausmachen, wie er im Editorial zur Jubiläumsausgabe schreibt. Gut möglich, dass es gerade „Lettre“ trotz des Digitalisierungsfurors auch in 30 Jahren noch gibt.

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