zum Hauptinhalt

Kultur: Globke, Filbinger, Fassbinder, Walser, Flick

Kleine Chronik der deutschen NS-Debatten

7. 12. 1949. Bundespräsident Theodor Heuss wendet sich in einer Wiesbadener Rede gegen die deutsche Kollektivschuld und prägt den Begriff „Kollektivscham“.

20. 9. 1950. Der Hamburger Senatsdirektor Werner Lüth ruft zum Boykott von Veit Harlans Film „Unsterbliche Geliebte“ auf. Harlan, der 1940 den NS-Hetzfilm „Jud Süß" inszeniert hatte, verklagt Lüth, es kommt bundesweit zu Demonstrationen und Prügeleien vor Kinos.

19. 10. 1953. Bundeskanzler Konrad Adenauer beruft den Juristen Hans Globke zum Staatssekretär. Globke war unter Hitler an der Ausarbeitung der Nürnberger Rassegesetze beteiligt. Adenauer kommentiert die Debatte mit den Worten: „Man schüttet kein schmutziges Wasser weg, solange man kein sauberes hat.“ Globke bleibt bis 1963 im Amt.

20. 2. 1963. Die Uraufführung von Rolf Hochhuths Drama Der Stellvertreter in der Freien Volksbühne Berlin gerät zum Theaterskandal. Hochhuth wirft der katholischen Kirche und Papst Pius XII. vor, zum Judenmord geschwiegen zu haben.

7. 11. 1968. Beate Klarsfeld schlägt Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger ins Gesicht, auf dem CDU-Parteitag in Berlin. Ihr Schlag trifft das Auge des Kanzlers, aber er geht als „Ohrfeige“ in die Nachkriegsgeschichte ein. Die 29-Jährige will auf Kiesingers NS-Vergangenheit aufmerksam machen und wird zu einem Jahr Gefängnis verurteilt.

22. 1. 1979. Die ARD beginnt mit der Ausstrahlung der US-Fernsehserie Holocaust. Das TV-Drama um das Schicksal einer jüdischen und einer Nazi-Familie löst erstmals öffentliche und private Diskussionen über die NS-Verstrickung aus. 20 Millionen Zuschauer schalten ein.

4. 2. 1980: Rolf Hochhuths „Die Juristen“ werden in Hamburg, Göttingen und Heidelberg uraufgeführt. Das Stück bringt den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Hans Filbinger (CDU), in der Nazi-Zeit Marinerichter, zu Fall.

25. 4. 1983. Der Stern veröffentlicht Hitlers Tagebücher und löst einen der größten deutschen Medienskandale aus, da Konrad Kujau sie gefälscht hatte.

15. 6. 1983. In einer Bundestagsdebatte zum NATO-Doppelbeschluss kritisiert der CDU-Abgeordnete Heiner Geißler die Friedensbewegung und sagt: „Der Pazifismus der dreißiger Jahre hat Auschwitz erst möglich gemacht.“ Man wirft ihm Geschichtsklitterung vor.

5. Mai 1985: US-Präsident Ronald Reagan und Bundeskanzler Helmut Kohl besuchen den Soldatenfriedhof in Bitburg, wo auch Mitglieder der Waffen-SS begraben sind. Es gibt nationale und internationale Proteste, darunter auch von Günter Grass. Am 8. Mai prägt Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner Ansprache zum 40. Jahrestag des Kriegsendes die Rede vom „Tag der Befreiung“.

31. 10. 1985. In Frankfurt am Main soll Rainer Werner Fassbinders Theaterstück Der Müll, die Stadt und der Tod uraufgeführt werden. Eine der Figuren ist ein jüdischer Immobilienspekulant, in dem viele Ignatz Bubis wiederzuerkennen glauben. Nach Protesten vor allem von der Jüdischen Gemeinde gibt es nur eine geschlossene Vorführung. Der Skandal löst eine Antisemitismus-Debatte aus.

6. 11. 1986. In der „FAZ“ erscheint eine Rede von Ernst Nolte, die den Historikerstreit auslöst. Während Nolte die „asiatische Tat“ der Nationalsozialisten als Antwort auf den Bolschewismus erklärt, spricht der Philosoph Jürgen Habermas von der „Singularität“ von Auschwitz.

10. 11. 1988. Zum 50. Jahrestag der Novemberpogrome hält Bundestagspräsident Philipp Jenninger eine Rede im Bundestag, bei der er das „Faszinosum“ Nationalsozialismus zu erklären versucht. Ihm wird vorgeworfen, dass er sich zu wenig vom NS-Gedankengut distanziert. Zwei Tage später muss er zurücktreten.

5. 3. 1995. Die Wanderausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 – 44“ wird in Hamburg eröffnet, sie tourt durch 33 Städte. Sie räumt mit dem Mythos einer „sauberen“ Wehrmacht auf. Nach heftigen Kontroversen wird sie wegen Fehlern bei der Bilddokumentation überarbeitet.

12 .4. 1996. Die „Zeit“ eröffnet die Debatte über die Kollektivschuldfrage. Anlass ist das im Herbst auch auf Deutsch erscheinende Buch des US- Historikers Daniel Jonah Goldhagen: „Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust“.

11. 10. 1998. Martin Walser spricht bei der FriedenspreisVerleihung in der Frankfurter Paulskirche von der „Moralkeule“ Auschwitz. Der Schriftsteller löst eine neue Antisemitismus-Debatte aus.

25. 6. 1999. Der Deutsche Bundestag fasst nach langer Debatte parteiübergreifend den Beschluss, das „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ zu errichten. Das Holocaust-Mahnmal nach dem Entwurf des New Yorker Architekten Peter Eisenman wird im Mai 2005 eröffnet.

18. 9. 2002. Justizministerin Hertha Däubler-Gmelin spricht vor Gewerkschaftern in Tübingen und vergleicht angeblich Bushs Methode, mit dem Irak-Krieg von innenpolitischen Schwierigkeiten abzulenken, mit der von Hitler. Die USA protestieren, Däubler-Gmelin bestreitet die Äußerung, wird jedoch nicht mehr Mitglied des neuen Kabinetts.

November 2002. Der Historiker Jörg Friedrich löst mit seinem Buch Der Brand über die Bombardierung deutscher Städte durch die Alliierten eine Debatte über die Opfer des Luftkriegs aus. Auch Günter Grass’ Anfang des Jahres erschienene Novelle „Im Krebsgang“ über den Untergang des Flüchtlingsschiffs „Wilhelm Gustloff“ hatte das Leiden der Deutschen thematisiert. Die Diskussion spielt auch im Streit um das geplante Zentrum gegen Vertreibung eine Rolle.

November 2003: Die Germanisten Walter Jens, Peter Wapnewski und der (verstorbene) Literaturwissenschaftler Walter Höllerer waren, wie sich jetzt herausstellt, NS-Parteimitglieder. Jens behauptet, er könne sich nicht erinnern, einen Parteiantrag unterschrieben zu haben. Auch Wapnewski erinnert sich nicht.

16.9.2004. Oliver Hirschbiegels Der Untergang startet im Kino, mit Bruno Ganz als Hitler in den letzten Tagen im Bunker. Der Streit dreht sich vor allem um die Frage, ob man Hitler „spielen“ und als gewöhnlichen Menschen zeigen darf. Ähnlichen Streit gibt es im Frühjahr 2006 um die TV-Serie „Speer und Er“.

21. 9. 2004. Eröffnung der FriedrichChristian-Flick-Collection im Hamburger Bahnhof durch Kanzler Schröder. Die Präsentation wird kritisiert, weil Flicks Großvater Rüstungsindustrieller unter Hitler war und sich der Erbe zeitweilig geweigert hatte, in den Fonds zur Entschädigung von Zwangsarbeitern einzuzahlen.

April 2005. Außenminister Joschka Fischer wird von Teilen des diplomatischen Corps angegriffen, weil er bereits 2003 verfügt hatte, dass verstorbenen Diplomaten, die früher NSDAP-Mitglieder waren, kein ehrender Nachruf mehr zuteil werden soll.

Zusammenstellung: chp, chs, km, rip, til

-

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false