zum Hauptinhalt

Kultur: Glücklich ist, wer vergisst

THEATER

Die Stimme klingt, als habe sie schon einiges an Hochprozentigem genossen: oktaventief, lebensklug und scheppernd wie ein alter Eimer. Die Beine jedoch sind rank und schlank wie einst, und in den Augen sitzt der Schalk. Eleonore Zetzsche ist ein besonderer Vogel, wie sie da in das Gartenhaus des Berliner Ensembles segelt, in schwarzem Abendkleid und Federboa: Berliner Urgestein seit 1949, seit Bertolt Brecht sie für „Mutter Courage“ ans BE holte – und nun von Hermann Beil für einen schrägen, schönen, sentimentalen Liederabend reaktiviert: „Leise flehen meine Lieder.“

Es wird noch mehr Alkohol fließen, an diesem Abend in der Tosca-Bar, die ins Gartenhaus des Berliner Ensembles eingebaut ist: Whiskey, Cognac, Champagner, aber auch Schweiß und eine kleine Träne. Es ist einer von jenen langen Abenden und noch längeren Nächten, in denen Gott und die Welt, Alter und Tod und zwischendrin auch die Klavierlehrerin oder ein Seitensprung verhandelt werden und in denen Banalität neben höchster Weisheit liegt. Nächte, in denen man – für die Dauer eines Drinks – den Freund oder die Liebe fürs Leben gefunden hat. Dass dazwischen mehrere Jahrzehnte Lebensalter liegen – wen stört das schon.

Der Partner, den die Zetzsche in der Tosca-Bar gefunden hat, ist Alexander Doering, der geschmeidige Barkeeper. Wo sie den Bass brummt, springt er ins Falsett. Gemeinsam buchstabieren sie sich durch das Lied-Repertoire, von Brahms und Schubert über Hollaender und Weill bis zu Cole Porter und Elvis Presley (am Klavier: Alfons Nowacki). Irgendwann werden die beiden, die Alte und der Junge, hinter der Theke hängen und champagnerselig „Brüderlein, Schwesterlein“ singen. Da ist, aus dem Wettstreit, längst heiße Liebe geworden, und aus der Trauer über das Vergehen der Zeit tapferer Übermut. Denn „time goes by“, und Brahms bitterer Requiem-Satz "Denn alles Fleisch, es ist wie Gras" mündet in „Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist“. Und Prost darauf (wieder am 27. März, 2., 12., 17. und 23. April).

Christina Tilmann

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false