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Überrascht und überwältigt. Julia Häusermann vom Hora-Ensemble. Foto: dpa

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Kultur: Glücklicher Verlust der Sicherheit

Laudatio auf die Preisträgerin / Von Thomas Thieme.

In diesem Jahr war der Schauspieler Thomas Thieme Juror des Alfred-Kerr-Darstellerpreises. Wir drucken seine Rede hier in gekürzter Form.

Es gab in den letzten Jahren Beiträge verdienstvoller älterer Künstler, die um den Fortbestand des deutschen Theaters fürchten, weil die Arbeitsergebnisse der jüngeren Teilnehmer in vielem nicht mehr den früheren und von diesen Älteren installierten intellektuellen und handwerklichen Kriterien entsprächen.

Das sollte auf Dauer so nicht stehen bleiben. Es ist an der Zeit, dass die Generation um die vierzig – die sind ja wohl mit jung gemeint – aus der Deckung kommt und diese grobe Verallgemeinerung seziert. Die sind ja sonst nicht auf den Mund gefallen. Aber vielleicht interessiert die das gar nicht?

Ungeachtet dieser Einschätzungen gibt es natürlich viel Albernes, Anmaßendes, Läppisches, Aufgeblasenes, Semipsychologisches, Besserwisserisches, Weltfremdes im Theater zu sehen, von jeder Generation, die produziert. Aber es gibt tatsächlich auch ergreifende Künstler unter siebzig, die nicht mehr wie Kortner sprechen und auch nicht mehr wie Minetti, es gab und gibt Dichter wie Sarah Kane, die schrieben und schreiben nicht mehr wie ... – die Namen setzen Sie mal selbst ein –, und Regisseure, die inszenieren nicht mehr wie … . Na, Gott sei Dank! Sie versuchen, die Sprache ihrer Zeit zu sprechen, und die Zeit ist, wie sie ist. Es muss ja Luft ran an das Material auf der Bühne. Es gab Zeiten, da waren die Alten die Vorbilder. Möglicherweise hat man, wenn man älter ist und berühmt und befriedet und geordnet, nicht mehr ganz die Einsicht in den disparaten Alltag. Das kann aber nicht zu der absurden Forderung führen, der eigenen Ästhetik die lebenslange Unkündbarkeit zu verordnen.

Zur Hauptsache: zum Preis. Um ein Motto für die Suche zu haben, habe ich mich an einem Satz von Brecht orientiert. Der hat gesagt: Die Sicherheit treibe ich mir noch aus. Das ist mir gelungen.

Ich habe bei diesem Theatertreffen vor allem Kollektive wahrgenommen – der Star ist die Mannschaft– , die mit großem Krafteinsatz an die Rampe stürmen und deren Stürme mir sympathisch waren: das Kollektiv des Hamburger Thalia Theaters um Thomas Niehaus, Daniel Lommatzsch, Catherine Seifert; „Krieg und Frieden“ aus Leipzig um Manolo Bertling und Birgit Unterweger; die Kölner „Ratten“ mit Lena Schwarz und Jan-Peter Kampwirth; „Orpheus steigt herab“ von den Münchner Kammerspielen mit Risto Kübar und Cigdem Teke; Herbert Fritschs konditionsstarke und formsichere Murmler. Und in der Generation, die meine Jurorenschaft nicht mehr einschließt, bewunderte ich die kompromisslose Wiebke Puls, den ernsten, tiefen Andre Schimanski, die beklemmende Lina Beckmann, den geschmeidigen Yorck Dippe, die hingebungsvolle Annette Paulmann.

Ich habe mich entschieden. Für eine 21jährige Schauspielerin vom Hora Theater aus Zürich, auch inmitten eines außerordentlichen Kollektivs von Schauspielern, deren Direktheit und Hingabe einzigartig war. Und meine Kriterien – ich hatte ja ein paar – gingen den Bach runter.

Da sah ich plötzlich den Nachwuchs, die Zukunft: ganz selbstvergessen, von anarchischem Humor, stiller Aggressivität und so unendlich traurig. Von immenser Kraft und beängstigender Zartheit, ganz weich und auch wie ein Muskel. Jede Bühnensekunde beschäftigt: mit ihrem Spiel, mit ihrer Wut, mit sich, mit der Liebe zu dem Riesen, der neben ihr sitzt. Existenz im Augenblick. Schwermut und Übermut zugleich. Und diese Verlorenheit. Keine Chance, ihr auf irgendeine Technik, eine gesetzte Pointe zu kommen. Vor mir tauchten Frank Giering, Susanne Lothar, Thierry van Werveke, Ulrich Wildgruber auf, Schauspieler am Rande des Kontrollverlustes, eventuell darüber und gerade deshalb für immer in mir.

Ich habe mich entschieden, ich bin glücklich. Ich übergebe voller Freude und mit unendlicher Bewunderung den Alfred-Kerr-Preis 2013 an Julia Häusermann.

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