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Kultur: Göring versuchte noch, den Chef zu spielen

Markus Wolf war Reporter bei den Nürnberger Prozessen. Ein Gespräch über „Siegerjustiz“ und NS-Größen im Kreuzverhör

Herr Wolf, Sie waren ab November 1945 als Reporter des Berliner Rundfunks der wohl jüngste Berichterstatter beim Hauptkriegsverbrecherprozess in Nürnberg. Und nach 60 Jahren sind Sie nun einer der letzten lebenden Augenzeugen. Hatten Sie damals, mit 22 Jahren, schon das Bewusstsein, ein Stück Weltgeschichte zu erleben?

Unbedingt. Deswegen hatte ich mich in der Redaktion selbst als Berichterstatter vorgeschlagen. Wir wussten, dass es um einen Prozess ohne Beispiel ging. Die ganze Weltpresse ist in das fast völlig zerstörte Nürnberg gefahren.

Obwohl Sie für den Berliner Rundfunk in der Masurenallee – heute ist das der RBB – berichteten, gehörten Sie zunächst zur sowjetischen Presse-Delegation.

Das war mehr ein Trick. Weil es für die relativ wenigen deutschen Journalisten sehr strenge Zulassungsbeschränkungen und Probleme mit den Unterkünften gab, benutzte ich meinen abgelaufenen Sowjetausweis...

Sie waren 1945 mit Ihrer Familie aus dem Exil in Moskau zurückgekommen –

Ja, und einige russische Kollegen hatten mich mit dem Wagen von Berlin mitgenommen in das unzerstörte Schloss der gräflichen Bleistiftfabrikanten Faber Castell. Dort war von den Amerikanern am Rande von Nürnberg das internationale Pressecorps untergebracht. Mit einem russischen Pass ließ man mich am Empfang sofort durch, und ich konnte im Areal des Faber Castle wohnen. Was auch den Vorteil hatte, dass man dort keine Lebensmittelmarken brauchte und von der US-Army gut verpflegt wurde.

Einige amerikanische Starjournalisten hatten sich aber beklagt, dass sie zwar in Schloss-Sälen hausten, aber auf Feldbetten mit jeweils mehreren in einem Raum.

Das war wohl praktisch nicht anders möglich. Ich hatte jedenfalls drei anregende russische Zimmergenossen; einer von ihnen war Boris Polewoj, der für die „Prawda“ berichtete und später ein renommierter Schriftsteller wurde.

Zu den internationalen Prozessbeobachtern, die im Faber-Schloss wohnten, gehörten auch Erika Mann, Alfred Döblin, der junge Willy Brandt oder als kurzfristige Besucher John Steinbeck und Ernest Hemingway. Und aus der Sowjetunion Ilja Ehrenburg. Sind Sie denen mal begegnet?

Von Willy Brandt, der für die Norweger berichtete, hatte ich erst später erfahren. Ihn kannte ja noch keiner. Steinbeck und Hemingway habe ich natürlich schon damals verehrt. Steinbecks „Früchte des Zorns“ oder Hemingways „Wem die Stunde schlägt“ hatte ich als Schüler in Moskau in russischen Übersetzungen gelesen. Man hörte auch, dass sie da waren, aber ich erinnere keine persönliche Begegnung im Faber-Schloss. Ehrenburg habe ich mal ins „Grand Hotel“ neben dem Nürnberger Bahnhof begleitet. Das war das beste Hotel und weitgehend unzerstört: der einzige Ort, wohin man abends ausgehen konnte. Da gab es Unterhaltungsmusik, und auf der Bühne tanzten auch mal einige knapp bekleidete Mädchen, die wegen der Ernährungsprobleme noch so mager waren, dass man eher Mitleid bekam. Trotz aller Abwechslungen dominierte jedoch die Arbeit.

In welcher Weise und wie oft haben Sie denn aus Nürnberg nach Berlin berichtet?

Ich hatte einen Arbeitsraum im Justizpalast, wo der Prozess stattfand, und habe als Erstes gelernt, einen Fernschreiber zu bedienen. Dort habe ich täglich zwei viertelstündige Berichte nach Berlin abgesetzt, von der Vormittags- und der Nachmittagsverhandlung. Ab 1946 wurden diese Berichte „Vom Sonderkorrespondenten des Berliner Rundfunks“ auch in der „Berliner Zeitung“ gedruckt. Nur in besonderen Fällen habe ich über Telefonleitungen direkt gesprochen. Mein Kommentar zur Urteilsverkündung am 30. September und 1. Oktober 1946 wurde sogar über alle deutschsprachigen Sender ausgestrahlt, dazu in Österreich und der Schweiz. Das war einzigartig.

Ist das Material noch vorhanden?

In Berlin wurden die Bänder irgendwann aus Materialmangel gelöscht. Aber im Deutschen Rundfunkarchiv in Frankfurt am Main existieren Kopien. Und bei mir zu Hause gibt es noch drei Kisten mit Aufzeichnungen und Dokumenten.

Wie nah kamen Sie den Angeklagten?

So nah, wie es aus der 7. Reihe der Pressetribüne im Nürnberger Gerichtssaal ging.

Der Saal war ja nicht so groß. Gab es im Laufe des fast einjährigen Prozesses in den Verhandlungspausen, wenn die Angeklagten nicht zurück ins Gefängnis hinter dem Justizpalast geführt wurden, keinen Kontakt? Die saßen nur wenige Meter entfernt.

Nein, da wurde jeder Kontakt von den Wachen verhindert. Keine Interviews!

Welchen Eindruck machten die einstigen NS-Größen auf Sie?

Man hatte natürlich die pompösen Bilder der Nazi-Herrscher vor Augen und stellte sich gleichsam Ungeheuer vor. Die Verkörperung ihrer Verbrechen. Ich dachte an einen Roman von Lion Feuchtwanger, „Der falsche Nero“, wo der im Karren dem Volk vorgeführt wird. Aber vor uns stand und saß kein Nero. Das waren auf einmal ganz normale Männer.

Göring etwa...

Göring hatte man mit seiner Körperfülle und seinem Bombast in Erinnerung, und jetzt hing ihm die Uniform des Reichsmarschalls ohne alle Orden am Leib herunter. Es waren zusammengefallene Größen. Im Mai ’45 hatte man ja Keitel in den Wochenschauen noch bei der Kapitulation in Berlin-Karlshorst gesehen: mit dem Marschallstab. Jetzt sah er in seiner Uniform ohne Rangabzeichen aus wie ein alt gewordener Postbeamter. Der Einzige, der dummdreist auffiel, war Julius Streicher.

Der Herausgeber des „Stürmer“, ein antisemitischer Pornograf, der selbst von den anderen Angeklagten geschnitten wurde.

Göring versuchte noch den Chef zu spielen. Aber im Kreuzverhör wurde auch er ziemlich klein.

Es heißt, Göring, der abgespeckt und durch Drogenentzug wieder gestrafft wirkte, habe aus Ehrgeiz und Eitelkeit durchaus versucht, vor dem Tribunal Eindruck zu machen. Das sei ihm punktuell sogar gelungen.

Punktuell. Doch als ihm der amerikanische Chefankläger Jackson immer neue Dokumente vorlegte, die seine Unterschrift trugen, war die Rolle des scheinbar souverän Agierenden zu Ende. Auch Göring zeigte keine wirkliche Haltung und leugnete seine geschichtliche Verantwortung. Man dachte vorher ja, dass die prominenten Angeklagten irgendwie offensiv die nationalsozialistische Ideen vertreten würden. Aber selbst Göring verhielt sich, wenn es für ihn kritisch wurde, wie die meisten, die sich nur als Hitlers Befehlsempfänger ausgaben.

Und Albert Speer?

Ich habe jetzt die Filme über Speer gesehen, den von Breloer, und auch eines seiner Bücher gelesen. Aber Speer erschien in Nürnberg eher als Randfigur. Er machte einen sehr blassen Eindruck.

Aus heutiger historischer Kenntnis hat ihm das wohl den Kopf gerettet.

Wahrscheinlich. Aber in seinen Aussagen hatte er eine gewisse Verantwortung für das, was geschehen war, immerhin anerkannt. Und man spürte auch, dass er gegenüber denen, die Blut an den Händen hatten, auf der Anklagebank nicht nur körperlich Distanz hielt.

Was war für Sie das Erschreckendste?

Mit am erschreckendsten war die Zeugenaussage von Höß, dem Kommandanten von Auschwitz. Da erlebte man zum ersten Mal den Zusammenhang zwischen einem ungerührten Bürokraten, der nach Dienstschluss ein normaler Familienvater war, und einem so unbegreiflichen Menschheitsverbrechen. Diesen Eindruck werde ich nie vergessen.

Merkwürdigerweise haben die sowjetischen Ankläger auch die Erschießung tausender polnischer Offiziere 1940 im Wald von Katyn eingebracht. Das geschah auf Stalins Befehl und sollte den Deutschen angelastet werden. Gab es einen Hinweis, warum die Russen diesen für sie brisanten Fall zur Sprache brachten?

Nein. Ich dachte damals auch, dass es ein deutsches Verbrechen war, und ich hatte keine Informationen von den sowjetischen Anklägern. Später erschien das dann entsprechend unverständlich.

Haben Sie in Nürnberg bereits die zunehmenden Spannungen zwischen den Alliierten gespürt: den Beginn des Kalten Krieges?

Die Beziehungen zwischen den russischen und den westlichen Korrespondenten blieben ganz reibungsfrei und locker. Die politischen Spannungen bekamen wir erst gegen Ende des Prozesses mit.

Die sowjetischen Ankläger wollten ja auch schärfere Urteile und von vorneherein mehr Todesurteile. Damals fiel auf deutscher Seite als Vorwurf das Wort „Siegerjustiz“. Warum haben Sie 50 Jahre später gerade diesen Begriff benutzt, als Sie als ehemaliger Geheimdienstchef der DDR in Düsseldorf vor Gericht standen?

Mir ist der Vergleich zu Nürnberg nie gekommen. Allerdings hat mir der Bundesanwalt in Düsseldorf meinen eigenen Schlusskommentar aus Nürnberg vorgehalten. Da fand ich den Vergleich mit Nürnberg absurd. Die Verurteilung wegen „Landesverrats“ wurde ja auch aufgehoben. Ich meine, die Anwendung des Begriffs „Siegerjustiz“ muss juristisch, vor allem aber historisch legitimiert sein.

Das Gespräch führte Peter von Becker.

Markus Wolf (82), Sohn des Schriftstellers Friedrich Wolf, kam 1945 aus dem Moskauer Exil nach Berlin und arbeitete zunächst als Journalist. Nach Gründung der DDR war er Diplomat, dann 34 Jahre Geheimdienstchef der DDR (als „Mann ohne Gesicht“). 1998 veröffentlichte er nach einer Verurteilung auf Bewährung (u.a. wegen Freiheitsberaubung) seine Erinnerungen.

Wolf spricht heute um 20 Uhr über seine Erfahrungen beim Nürnberger Kriegsverbrecherprozess im Kinosaal des Berliner Martin-Gropius-Baus . Infos: Topographie des Terrors (030/254509-0 und www.topographie.de )

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