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Kultur: Götter des Gemetzels

Theatertreffen der anderen Art: Peter Steins Berliner „Wallenstein“-Marathon bezwingt die Zeit

Und so kam das Berliner Ensemble doch noch zum Theatertreffen, setzt sich hintendrauf mit Schillers „Wallenstein“, G-3-Gipfel in Berlin-Neukölln. Drei elder statesmen im Dreißigjährigen Krieg; Peter Stein als Schlachtenlenker, Klaus Maria Brandauer in der größten Feldherrenrolle der deutschen Klassik und im Hintergrund Claus Peymann. Sein BE hat den Schiller’schen Dreiteiler mit Geld von der Bundeskulturstiftung, der Deutschen Bank und Daimler-Chrysler produziert. Ein Elefantenrennen.

Zehn Stunden, in denen einem Hören und Sehen vergeht, wenn die hölzernen Landsknechte ins Schwadronieren kommen. Ein langer Tag und Abend auch, an dem man Schiller hören kann, Kunstsprache, Sprechkunst. Schneckentempo. Kondensierte Zeit. Von zwei Uhr bis Mitternacht. Es ist nicht das Schlechteste, was man von einer Aufführung sagen kann: Dass sie das eingetaktete Alltagszeitempfinden durcheinanderwirft. Und wenn sie dann (fast) alle gestorben sind, nach dem schier endlosen, „Hamlet“-haften Finale, dann hat man den Bauch voll von all dem Schwarzbrot – und noch immer nicht genug. Paradox dieses Schauspiels: „Wallenstein“ macht Hunger auf Theater.

Und das nach zwei Wochen Theatertreffen in Berlin. Nichts war dabei, was unvergesslich bleibt. Nichts mehr vom Generationenzoff. Jüngere Regisseure wie Jan Bosse wirken geradezu altersmilde, und Ältere wie Gosch und Gotscheff agieren spaßig bis souverän. Nichts mehr aus der Ekelecke. Corinna Kirchhoff kotzt in Yasmina Rezas „Der Gott des Gemetzels“ formvollendet auf einen Kokoschka-Kunstband, da haben wir’s! Andreas Kriegenburg setzt seinen „Drei Schwestern“ Pappmasken auf, sie singen „We all live in a yellow submarine“. Wozu das? Oder warum auch nicht? Alles einigermaßen solid, es gab schon schlechtere Jahrgänge.

Oder ist man bescheiden geworden, hat sich gewöhnt an die Spielfilmlänge auf der Bühne, und fertig? Peter Stein, der für ein Wochenende unsere Bezugsgröße sein soll, hat die „Orestie“ einst in neun Stunden erzählt, während Michael Thalheimer am Deutschen Theater zwei Stunden dafür braucht. Zwei Zeitlupenstunden. Beschleunigung, Entschleunigung, das war auch schon Schillers Problem. Die Erstausgabe des „Wallenstein“ erschien 1800; von Texttreue konnte auf den Bühnen damals keine Rede sein.

Und von wegen „Drei Schwestern“ im U-Boot, von wegen Untergang: Zur Eröffnung des Festivals, bei „Ulrike Maria Stuart“ vom Hamburger Thalia Theater gab es ja schon Schiller-Happen, die Elfriede Jelinek und ihr Regisseur Nicolas Stemann in die RAF-Revue einrühren; den Kampf der Königinnen. Und eine Persiflage auf Eichingers Führerbunkermelodram, „Der Untergang 2“.

„Wallensteins Tod“ ließe sich wie ein Vorvorgänger eines noch schrecklicheren deutschen Endkampfes deuten, was Stein, dem es allein ums Historische geht, natürlich so nicht inszeniert hat. Stein hat überhaupt nie direktes politisches Theater gemacht. Und Bruno Ganz als Leinwand-Hitler – da denkt man eher an den „Faust“. An jenen anderen Stein’schen Marathon, der vor sieben Jahren auf der Expo in Hannover begann und der jetzt wieder aus der Theaterhistorie auftaucht, wenn „Wallenstein“ marschiert.

Dass der Dramatiker Schiller von einem anderen Kaliber war und ist als Goethe – ein alter Hut. Doch es ist ein Verdienst Peter Steins, dass man das jetzt aus eigener Erfahrung wissen kann und nicht allein vom Hörensagen, nach dreiundzwanzig Stunden „Faust“ und zehn Stunden „Wallenstein“. Gutes Theater ist immer auch ein Vergleich von Unvergleichbarem. Steins „Wallenstein“, wie gesagt, macht Lust auf Theater, auf anderes Theater.

So wie er Schiller spielen lässt, ist es natürlich ein Rückgriff. Ein Statement. Wie er Schillers Dramaturgie grenzenlos vertraut, das kann einen irre machen. Man sitzt wie im Gefängnis. Die Außenwelt (Neukölln! Hat nicht die Rütli-Schule etwas mit Schiller zu schaffen, „Wilhelm Tell“? ) ist ausgeschlossen. Aber: Im Nachhinein gewinnt zum Beispiel die „Wallenstein“-Paraphrase von Rimini-Protokoll (Theatertreffen 2006) mit Laiendarstellern und sogenannten Spezialisten noch dazu. Weil mit Steins Wahnsinnstat der nahezu ungekürzten Textaufführung die Fallhöhe deutlich wird.

Hat man nun endlich all die Assoziativkräfte aus den letzten Theaterwochen und -jahren einigermaßen beruhigt und Platz gemacht im Kopf, um „Wallenstein“ zu erleben, zu ertragen und hart zu ersitzen, geht es schon wieder los. Theatergeschichte lauert überall, auch wenn hier zum ersten Mal Kunst gemacht wird. Ein strahlender Tag, über dem Brauereigelände an der Neuköllner Werbellinstraße tackert ein Rosinenbomber. Gehobene Stimmung auf dem Hof, ein Auflauf eher wie in Salzburg. Durch das Restaurationszelt schieben sich 1200 Zuschauer in die Halle, der Ort atmet einen Hauch Cartoucherie des Pariser Théâtre du Soleil. Im dunklen Anzug spricht Walter Schmidinger den Prolog: „Und doch ist dies der alte Schauplatz noch / Die Wiege mancher jugendlichen Kräfte, / Die Laufbahn manches wachsenden Talents. / Wir sind die alten noch, die sich vor euch /Mit warmem Trieb und Eifer ausgebildet.“ Ein Moment von rührender Größe. Schmidinger tremoliert ohne falsches Pathos. „Zerfallen sehen wir in diesen Tagen / die alte feste Form.“ Schiller meinte Europas politische Landkarte im 17. Jahrhundert.

Und sogleich ist es aus mit der feinen Melancholie, es wird grob geholzt. „Wallensteins Lager“: Auf der Bühne, so breit wie keine in der Hauptstadt, schwatzt das Soldatenvolk in seinen bunten Waffenröcken (Kostüme: Moidele Bickel). Zelte, Hellebarden, Biergartentische fährt Bühnenbildner Ferdinand Wögerbauer für den ersten Teil auf, folkloristisches Gereime und Gerede im Kunstschnee; vorn wird Suppe gekocht, es kündigt sich bereits Brechts „Mutter Courage“ an, deren Marketenderinnen-Altfränkisch einen inzwischen ja auch zur Verzweiflung bringen kann. Noch bis weit in den zweiten Teil („Die Piccolomini“) hinein erholt man sich nicht wieder von dieser knarzend-blöden Eröffnung mit tumben Schlachtenbummlern, Rabauken und Trompeten.

Endlich Auftritt Brandauer; Wallenstein kommt ja spät erst aus der Kulisse. Die Bühne ist jetzt weit und leer, noch riesiger. Schiebewände, die nachher, etwa beim Bankett, ein wenig an Robert Wilson erinnern, schaffen nicht ungeschickt kleine Besprechungszimmer und große Festsäle. Brandauer im Ledermantel, mit Zottelhaar. Beißend sein Spott für die Kabinettspolitiker, ein giftiger Komödiant. Erstaunlich uneitel. Herablassend ist er nicht. Kein Starauftritt. Man spürt Regie.

Immer mehr wird seine Mimik der von Peter Stein ähneln, er wird still werden, sehr still, und erst gegen Ende, schon so gut wie tot, steht er auf einem Denkmalssockel, um ihn herum viel leere Luft. Da legt er los, sein Panzer klappert zum Erbarmen, jetzt ist er Macbeth und Knattermime. Sind wir jetzt im alten Burgtheater oder ist das Schiller-Theater auferstanden, wo Boy Gobert sich einst zum Abschied als Wallenstein in Szene setzte? Diese Ritter: wie aus der Augsburger Puppenkiste, rolle-rolle-rolle im Rollbergviertel. Rumstehtheater, Männer mit Säbeln machen bedeutungsvolle Gänge, deklamieren Staatsräson. Ganz ohne das geht’s nicht, das Marthaler’sche Zeitaussitzen ist aber auch nicht mehr so frisch. Und manchmal ist es im Museum auch schön. Brandauers Feldherr: ein Instinktmensch, im scharfen Kontrast zu seinen Freunden, die seine Todfeinde werden. Peter Fitz (Octavio Piccolomini) intrigiert mit Engelsgeduld, sie macht ihn zum Teufel, und Jürgen Holtz (Oberst Buttler) spricht Schiller wie sonst keiner hier. Hart, immer mit einer zweiten Bedeutung, luzid im Ausdruck, finster in der Seele.

Die Sache zieht sich hin, das wusste man. Wenn Holtz auftritt, wenn er seinen entsetzlichen Kadavergehorsam zelebriert, wird einem eiskalt ums Herz. Holtz kann etwas, was so selten ist: Tragik ohne Schmelz, ohne Armfuchteln, ohne Augenaufschlag. So klingt Schiller, wenn einer Heiner Müller noch im Blut hat.

Anders als bei „Faust“ hat Stein von Anfang an ein Ensemble. Die unteren Ränge sind mit BE-Schauspielern besetzt, das junge Liebespaar Thekla (Wallensteins Tochter) und Max Piccolomini kommt direkt von der Schauspielschule. Starkes Debüt für Friederike Becht und Alexander Fehling, für sie vor allem. Theklas Monolog über das Sterben – die Uhr geht schon auf halb zwölf – ist ein Höhepunkt.

Brandauers Wallenstein, der Geniemensch, wird einsilbig, er hat sich müde gespielt, wie der idealistische Max. Eine andere Zeit soll beginnen, eine nachklassische. Nicht das Große, nur das Menschliche geschehe, heißt es bei Schiller. Gräfin Terzky, Wallensteins Schwester, bleibt allein mit all den Leichen zurück, bis das Gift wirkt, das sie nahm. Es gehört zu den schönsten Beobachtungen, die man in diesem „Wallenstein“ machen kann, wie Elisabeth Rath das Wort ergreift, nach und nach. Wie sie das Geschehen, das ihr entgleitet, noch mal an sich reißt.

Quälend die Agonie. Beton. Stein wollte partout nichts streichen. Plötzlich ist es – bizarrer Gedanke! – wie in einer Inszenierung von Frank Castorf, der bei seinen Fünfstündern nie zum Schluss kommt. „Wallenstein“, ein Theater der großen Koalition. Vorbei der dreißig-, vierzigjährige Theaterkrieg, den die Steins und Peymanns einst vom Zaun brachen gegen ihre Vorgänger – und den sie viel zu lange gegen ihre Nachfolger geführt haben, mit bitterer Missgunst. Peter Stein taugt nicht mehr zum Feindbild für das zeitgenössische Theater. Denn das haben jetzt alle begriffen: Was da etwas streng riecht, wie die Äpfel unter Schillers Schreibtisch, ist das Theater selbst, ob alt oder jung, ob texttreu oder Patchwork. Stein, bald 70, hat etwas hingestellt. Jetzt müssen welche kommen, die Schiller, was immer, ebenso groß und erschöpfend einreißen. Vielleicht wird Neukölln ein Neubeginn. – Großer Applaus.

Wieder vom 26. bis 28. Mai und am 2., 3., 9., 10., 16., 17., 23., 24., 30. Juni. Karten beim BE, Tel. 030 – 28408 155.

Rüdiger Schaper

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