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Kultur: Gottes Kirschstreusel

Ein Samstag auf dem Lande: Ausflug nach Zinna zu den Brandenburgischen Sommerkonzerten.

Kaum bin ich in Zinna, denke ich an Westfalen. In Zinna nämlich plästert es, wie man auf Westfälisch sagt, das Wasser kommt vom Himmel herunter, als hätte sich der liebe Gott genau diese paar Stunden ausgesucht, um den Besuchern der Brandenburgischen Sommerkonzerte zu zeigen, wo die letzten Entscheidungen in Wirklichkeit getroffen werden.

Außerdem wurde der Fläming vor fast tausend Jahren nicht nur von Flamen und Niederländern, sondern auch von Westfalen besiedelt, also bitte. Die Damen von der Zinnaer Kirchengemeinde übrigens, die in kleinen Unterständen im romantischen Klosterhof Käsekuchen, Kirschstreusel und Schmorbraten verkaufen, die Damen also stehen da, als mache ihnen der Regen nichts aus. Das Wasser bahnt sich seinen Weg durch die Baumkronen, die Feuchtigkeit zieht in Bierbänke und Sommersandalen, die Damen lächeln, es ist vier Uhr am Nachmittag.

Bis zum abendlichen Konzert in der Klosterkirche ist noch Zeit für jene beschaulichen, lokalpatriotisch durchglühten Unternehmungen, die charakteristisch sind für die Brandenburgischen Sommerkonzerte. Diesmal vielleicht nicht die Ortsführung durch die von Friedrich dem Großen errichtete Planstadt – am Ende müssen wir noch durchnässt vom Regen an einem der vielen kleinen Weberhäuschen aus dem 18. Jahrhundert klopfen und um Asyl und neue Kleidung bitten.

Lieber ins Klostermuseum, eines der wenigen Relikte der Anlage, die 1171 gegründet wurde und jahrhundertelang einen riesigen Grundbesitz verwaltete. Erstens gibt es im Abtszimmer eine schöne historische Fußbodenheizung, die noch immer ihre Wärme abzugeben scheint, zweitens im Obergeschoß wunderbare Fresken, darunter ein Bild der heiligen Ursula mit lauter Jungfrauen unter ihrem Mantel.

Und dann natürlich der „Klosterbruder-Kräuterlikör“ in der Kräuterdestille gleich nebenan. Kein Wunder, dass nun draußen die Sonne durchbricht, danke, lieber, Gott, genau so haben wir uns das vorgestellt, endlich kann diese neunte der 29 SoKo-Landpartien in dieser Saison an Fahrt gewinnen. Und dann ruft auch bald schon die Kirche.

Dunkel ist es in St. Marien, das gehört zur Choreografie dieses Konzerts. Folkert Uhde, Bernhard Heß und Bernhard Schrammek haben in Zusammenarbeit mit dem Licht-Designer Arnaud Poumarat ein Programm zusammengestellt, das sich zu einer „abendlichen Messe neuer, ganz eigener Art“ rundet, wie sie schreiben. Zum einen singt der RIAS Kammerchor unter Hans-Christoph Rademann Palestrinas „Missa Papae Marcelli“, die 1562 auf den 1555 verstorbenen Papst Marcellus geschrieben wurde.

Schon zu Lebzeiten galt die Messe als ein Modell für den „einzigen wahren Kirchenmusikstil“, dessen gänzliche Entfaltung man Palestrina zuschrieb. Sie blieb die berühmteste seiner über 100 Messen – lyrisch im Ton, freundlich in der Balance zwischen Homophonie und Polyphonie, gut zur Stimme und zum Text. Kombiniert wird die Messe hier mit gregorianischen Gesängen, die drei der fabelhaften Damen des Chores, Inés Villanueva, Viola Wiemker und Karola Hausburg, auf eine Weise vortragen, die höchstens erahnen lässt, dass es sich nicht um eine, sondern um drei Stimmen handelt. Wie überhaupt sich der Chor auf der Spitze seines Könnens zeigt: ein Hauch von Unsauberkeit im „Et incarnatus est“ weht vorüber, ansonsten Super-Intonation, Super-Farbe, absolute Kontrolle.

Zwischen diese beiden Mess-Elemente werden geistliche Werke von Reger und Scelsi plaziert, dazu Bachs „Komm Jesu, komm“ (hier geradezu getragen), überdies Stücke von Rihm und Messiaen: ein eben durch den Kammerchor uraufgeführtes Vaterunser von Rihm, ruhig pulsierend, weit ausgreifend in die Register der Stimmen, später eine etwas modrig harmonisierte Magnificat-Antiphon des jungen Messiaen, zu der sich das Ensemble so weit vorn in den Alterraum hineinstellt, dass man unwillkürlich an den Schleier denken muss, der um 1200 in Notre Dame zu Paris hing, um die Schola vom einfachen Gottesdienstvolk abzusondern.

Überhaupt wird an diesem Abend der gesamte Kirchenraum für die Choraufstellung genutzt, was noch mehr ins Auge fällt als das goldene Licht, das Poumarat über dem Ensemble ausgießt. Da kommt mir übrigens schon wieder Westfalen in den Sinn. Denn als ich klein war, haben wir dort auch einmal Kirche gespielt. Mein Cousin vollzog die Eucharistie und gab Bonbons auf die gefalteten Händchen, meine Schwester spielte den Bischof, der die Firmung verabreichte, zarter Backenstreich oder Ohrfeige, darüber konnten wir uns nicht einigen. Jedenfalls haben unsere Eltern sehr geschimpft, das Kirche-Spielen musste aus dem Repertoire verschwinden. An diesem Abend wird es mir wieder präsent. Außer, dass in Zinna natürlich nicht gelacht wird.

Auf der Suche nach neuen Orten und Formaten für geistliche Musik experimentiert man offenbar auch mit einer eigentümlichen Vorgang der Re-Sakralisierung des Repertoires. Oder anders: So fromm wie die Mitglieder des RIAS Kammerchores mit ihren batteriebeleuchteten Notenalben habe ich keinen Pfarrer mit seinen Ministranten und ihren Kerzen je einziehen sehen.

Der geradezu überzüchtete Klang des Chores, das proto-geistliche Gehabe beim Gang durch den Raum, das güldene Licht – all das geht eine ungünstige Verbindung ein. Ein schönes, ein überaus wohlklingendes Experiment. Im Moment lässt sich aber wenig mehr darüber sagen, als dass es päpstlicher als der Papst ist.

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