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Kultur: Gottes Landeplatz

LESEZIMMER Kurt Scheel revolutioniert die Medientheorie – mit übersinnlicher Hilfe Ist Ihnen eigentlich mal aufgefallen, wie viele Filme mit einem Blick von oben auf die Stadt einsetzen, wo die zu erzählende Geschichte spielen wird? Hunderte von Filmen beginnen mit einem Flug über New York, meistens ist es Nacht, die erleuchteten Fenster in den Wolkenkratzern (was für ein süßes, altmodisches Wort), ach, das ist ja Brooklyn Bridge, schau: Central Park, und dort, oje, das World Trade Center, da überfällt einen ein Schmerz, eine Rührung – und dann sind wir auch schon auf der Straße, sehen einen Mann, eine Frau, und nun treten wir ein in die Sphäre des menschlichen Lebens.

LESEZIMMER

Kurt Scheel revolutioniert die Medientheorie – mit übersinnlicher Hilfe

Ist Ihnen eigentlich mal aufgefallen, wie viele Filme mit einem Blick von oben auf die Stadt einsetzen, wo die zu erzählende Geschichte spielen wird? Hunderte von Filmen beginnen mit einem Flug über New York, meistens ist es Nacht, die erleuchteten Fenster in den Wolkenkratzern (was für ein süßes, altmodisches Wort), ach, das ist ja Brooklyn Bridge, schau: Central Park, und dort, oje, das World Trade Center, da überfällt einen ein Schmerz, eine Rührung – und dann sind wir auch schon auf der Straße, sehen einen Mann, eine Frau, und nun treten wir ein in die Sphäre des menschlichen Lebens.

Vorher aber, als wir in der Luft schwebten, uns auf die Erde, die Stadt stürzten, sahen wir das alles aus der Perspektive Gottes. Deswegen ist das Kino ja so ein wunderbarer, fast möchte man sagen heiliger Ort: Weil die Kamera das Auge Gottes ist, und wenn sie vom Himmel auf die Erde blickt, fühlen wir uns ein bisschen allmächtig. Und deshalb haben wir im Kino auch immer wieder dieses Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, denn du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht nachahmen, noch ihm gleich sein wollen.

Womit jetzt auch eigentlich klar sein dürfte, warum die besten Filme, die mit solch einem Sturz vom Himmel auf die Erde beginnen, in New York spielen: New York ist ganz offensichtlich Gottes Lieblingsairport, da kommt er in der Regel an, wenn er die Menschheit besucht – wie ja auch die meisten Einwanderer in New York, auf Ellis Island, ankamen, als sie in die Neue Welt wollten. Oder halten Sie es etwa für einen Zufall, dass Gott und die Menschen, die ihm besonders am Herzen liegen, die Erniedrigten und Beleidigten, dieselbe Stadt als Eingangstor zu einer neuen, besseren Welt gewählt haben? Dann erinnern Sie sich doch bitte an den Anfang von „Working Girl“, wenn wir Miss Liberty sehen, die Skyline von Manhattan (mit den beiden Türmen, ach) und mächtig und herrlich die Musik einsetzt und „the New Jerusalem“ preist, ja verkündet: alles bloß Zufall?!

Wahrscheinlich ist das der Grund dafür, dass alle Menschen guten Willens, sogar die Franzosen, so getroffen waren, als die Türme zerstört wurden: Man hatte Gottes regulären Landeplatz geschändet. Es war kein Anschlag auf New York oder die Vereinigten Staaten, sondern auf die Menschheit.

Für diejenigen meiner Leser, die nicht an Gott glauben, formuliere ich meine These dahingehend um: Die Kamera ahmt das Auge Gottes nach. Und das gilt nun nicht nur für die entfesselte Spielfilmkamera, sondern im Prinzip auch für die dumme Fernsehkamera. Freilich mit einem entscheidenden Unterschied: Im Kino sehen wir als einzelne aus der Perspektive der Kamera alles und alle – im Fernsehen aber wird die Blickrichtung umgekehrt; das, was es zeigt, ist belanglos im Verhältnis zu dem, dem sie es zeigt: dem Publikum. Deswegen macht es auch fast nichts aus, wenn das, was gezeigt wird, dumm oder nichtswürdig ist; selbst der „Musikantenstadl“ und „ZDF spezial“ sind okay, jedenfalls kein Grund, sich aufzuregen.

Der Mensch im Kino ist allein (wie Gott); der Mensch vor dem Fernseher, so allein er sein mag, ist immer Masse, nie Individuum. Das Bild, das auf dem Fernseher zu sehen ist, sieht dich an; das Bild auf der Kinoleinwand siehst du an. Deshalb ist man vor dem Fernseher nie allein, aber oft einsam („lonely crowd“), im Kino immer allein, aber nie einsam.

Irgendwelche Medientheoretiker – im Zweifelsfall nennen Sie McLuhan, damit kommen Sie meistens durch – haben den Film als warmes und das Fernsehen als kaltes Medium bezeichnet; als Metapher mag das angehen, aber eine vernünftige (und gottgefällige) Erklärung wie die meine hat es bisher nicht gegeben. Medientheoretisch ist das, in aller Bescheidenheit, ein Quantensprung (was nun wieder eine fragwürdige Metapher ist, eigentlich soll der Begriff nur in enger physikalischer Bedeutung benutzt werden), will sagen: ein Durchbruch, etwa wie der Übergang vom ptolemäischen zum kopernikanischen Weltbild.

Ich bin mir selbstverständlich bewusst, dass es sich bei meiner Theorie um eine idealtypische Konstruktion im Sinne Max Webers handelt. In Wirklichkeit beziehungsweise „Wirklichkeit“ sind die Differenzen natürlich gleitend, gibt es viele Übergänge zwischen Film und Fernsehen – wie sonst sollte man erklären, dass deutsche Kinofilme so oft Fernsehen sind, „Barry Lyndon“ von Stanley Kubrick aber auch als DVD hervorragend funktioniert. Das Grundproblem aber scheint mir, mit Gottes Hilfe, gelöst. Man wird jetzt noch vielerlei Einzelforschung betreiben müssen, empirisch und falsifikationstheoretisch, aber wenn alle mithelfen, auch Sie, meine verehrten Leser, sollte es doch mit dem Deibel zugehen, wenn wir es nicht gemeinsam schafften.

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