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Kultur: Gretchenfragen

Wie hast du’s mit der Religion? Liberalismus und Gottesstaat: Beginn einer Tagesspiegel-Serie

Wenige Wochen nach dem 11. September 2001 überraschte der der Philosoph Jürgen Habermas, Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels, in der Frankfurter Paulskirche mit einer Rede, die zunächst so gar nicht zum Œuvre des „religiös unmusikalischen“ Denkers (Habermas) zu passen schien. Unter dem Titel „Glauben und Wissen“ skizzierte er das Bild einer „postsäkularen Gesellschaft“ – einer Gesellschaft, die sich nach langen, sowohl befreienden wie schmerzhaften Prozessen der Verweltlichung „auf das Fortbestehen religiöser Gemeinschaften in einer sich fortwährend säkularisierenden Umgebung einstellt“. Habermas’ Prämisse: Am 11. September 2001 sei die „Spannung zwischen säkularer Gesellschaft und Religion“ explodiert.

Inzwischen, zweieinhalb Jahre später, hat sich die spontane Diagnose von Habermas zur Gewissheit verfestigt: Wir befinden uns in einem Religionskrieg, in einem Religions-Weltbürgerkrieg. Die ersten Antworten auf die Frage der Amerikaner, die auch eine Frage der Europäer sein muss – Why do they hate us so much? / Warum hassen sie uns so sehr? – waren vielfältig. Aber die globalisierungskritischen Analysen der geostrategischen Situation (als Kampf ums Öl), der kulturellen Differenz (Samuel P. Huntington), der ökonomischen Ungerechtigkeit (Ted Honderich) oder der medialen Anarchie (Jean Baudrillard) erwiesen sich allenfalls als Neben- oder Unteraspekte des zentralen Konfliktes: zwischen Gottesstaat und Liberalismus.

„Religion bleibt der gefährlichste Sprengstoff der Kultur“, resümiert der Historiker Gustav Seibt gestern in der „Süddeutschen Zeitung“ unter der Überschrift „Religionskriege können nicht gewonnen werden“. Und er fährt fort: „Aber Amerikas kämpferischer Liberalismus ... trägt so stark zivilreligiöse Züge, dass er sich in der bevorstehenden Auseinandersetzung als Faktor der Eskalation erweisen könnte.“ Liberalismus als Religion? Weltlichkeit, Säkularismus als Religion?

Über diese Frage schreibt an diesem Ostersonntag der Ägyptologe und Kulturtheoretiker Jan Assmann, der mit seinen Thesen zum „Preis des Monotheismus“ („Moses der Ägypter“, 1998, „Die Mosaische Unterscheidung“, 2003) ins Kreuzfeuer der Kritik geraten ist. Denn er behauptete in diesen Büchern nicht weniger, als dass die Religionen des einen Gottes, die monotheistischen Religionen, ein aggressives Grundpotenzial der Intoleranz enthalten, weil sie zum kategorischen, bisweilen gewaltsamen Ausschließen anderer religiöser Weltbilder tendieren. Dass diese Diagnose nicht zum „Neu-Heidentum“ führen muss, wie ihm Kritiker unterstellten, erklärt Jan Assmann im Tagesspiegel-Essay. Vielmehr dient sie dazu, sich die „unabgeschlossene Dialektik des abendländischen Säkularisierungsprozesses in Erinnerung“ zu rufen, wie Habermas in seiner Friedenspreisrede forderte.

In den nächsten Wochen äußern sich Wissenschaftler und Politiker im Rahmen dieser Serie zur berühmten „Gretchenfrage“ aus Goethes „Faust“ – Nun sag’, wie hast du’s mit der Religion? Die Frage ist dabei sowohl individuell wie gesellschaftlich zu verstehen. Dass man in der jetzigen Situation kaum Theorien entwickeln kann, ohne seine persönlichen Standpunkte offen zu legen, versteht sich fast schon von selbst. Was emphatisch als „freier Westen“, als offene Gesellschaft bezeichnet wird, muss sich in der Positionsbestimmung zwischen liberalen Ideen und der Bedrohung durch neoreligiöse Fundamentalisierung neu beweisen.

Die öffentlichen Debatten der letzten Zeit, von der Gentechnik, Sterbehilfe und Gehirnforschung über Kopftücher und Kreuze an Schulen bis hin zur Aufnahme der Türkei in die EU oder dem christlichen Fundamentalismus des Mel-Gibson-Films „Die Passion Christi“, haben als gemeinsame Nenner diese Fragen: Wie können wir die zivilisatorischen Errungenschaften unserer religiös geprägten Geschichte bewahren, wo müssen wir sie korrigieren? Wie weit dürfen wir mit der „Entzauberung der Welt“ (Max Weber) gehen, ohne in uns einem nihilistischen Materialismus auszuliefern? Wäre in diesem Fall etwas Wahres an dem Vorwurf der islamischen Welt gegenüber dem liberalen Westen, er sei der „große Satan“? Wie weltlich muss der liberale Staat sein, damit er das friedliche Zusammenleben verschiedener Religionsgemeinschaften garantieren und fördern kann?

Diese Fragen sind allesamt Gretchenfragen.

Marius Meller

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