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Kultur: Große Ekstase auf kleinem Raum

"Die Menschen stehen vorwärts in den Straßen / Und sehen auf die großen Himmelszeichen / Wo die Kometen mit den Feuernasen / Um die gezackten Türme drohend schleichen." Dicht verklammert sind die Schatten und Figuren, die Ernst Ludwig Kirchner zu diesen Zeilen von Georg Heym in Holz geschnitten hat.

"Die Menschen stehen vorwärts in den Straßen / Und sehen auf die großen Himmelszeichen / Wo die Kometen mit den Feuernasen / Um die gezackten Türme drohend schleichen." Dicht verklammert sind die Schatten und Figuren, die Ernst Ludwig Kirchner zu diesen Zeilen von Georg Heym in Holz geschnitten hat.Ausgreifende Krallenhände, flehend erhobene Arme tauchen aus dem Helldunkel auf.Kleine Figuren stürzen am Rande ab.Jeder Zwischenraum ist selbst wieder zur bezeichnenden Form geworden: Alles Seiende verdichtet sich zu einem hieroglyphischen Text.

Auf knapp sieben mal sieben Zentimetern erscheint diese Vision, die, wie Kirchner in einem Brief mitteilte, "aus der Ekstase des Schaffens geboren" wurde und weniger aus einer bewußten Aneignung der Dichtung Heyms.Doch der Schriftsteller und der Künstler waren gleichermaßen vom Kulturpessimismus und dem Schock der Moderne geprägt.Schon im Frontispiz für Heyms "Umbra vitae" blendet Kirchner drei existentielle Erfahrungsbilder ineinander: Ein Mann, der die Hände beschwörend bis zu den Ohren erhoben hat, ist ganz auf die Gegenwart konzentriert, während aus dem Schatten zu seinen Füßen schon der Totenschädel schaut.Quer zu dieser statischen Doppelfigur treibt der Schatten einer springenden oder stürzenden Frau."Das ewig Weibliche ...", na ja.

"Für einen Verleger war die Zusammenarbeit mit Kirchner nicht einfach", weiß Lutz Malke, der die Ausstellung zum 60.Todestag des Expressionisten-Papstes in der Kunstbibliothek eingerichtet hat.Probedrucke mit handschriftlichen Korrekturen und verschiedene Varianten zu Bucheinbänden dokumentieren die Verbindung von Experimentierfreudigkeit und Perfektionismus, die Mitarbeiter Kirchners nicht nur Nerven gekostet haben muß.Verleger wie Kurt Wolf waren Überzeugungstäter; gut verkaufen ließen sich die arbeitsintensiven Bücher nicht.Mit einer Schenkung an die Kunstbibliothek Berlin 1924 sorgte Kirchner dennoch dafür, daß seine Gebrauchsgraphik als Quersumme der expressionistischen Themen im kleinen Format erscheinen kann.Dies Konvolut umfaßt Illustrationen zu den Erzählungen des Schweizer Autors Jakob Bosshart "Neben der Heerstraße", einzelne Blätter zu literarischen Stoffen, die in keinen Zyklus Eingang fanden und Vignetten für sein graphisches Werkverzeichnis.

Das Titelblatt für den graphischen Katalog verrät, wie sich der Künstler sein Gegenüber wünschte, den Leser, Sammler, Verleger oder Kunstschriftsteller: Schon fast demütig krumm sitzt der im konzentrierten Studium über die Graphik gebeugt, während der Künstler vor ihm stehend mit großer Geste Aufklärung spendet.Dieser hart erkämpften Souveränität des Künstlers mußte sich einmal auch Ludwig Justi, Direktor der Nationalgalerie beugen: Kirchner war mit dessen Auswahl von drei Landschaftsbildern für einen Ankauf des Museums nicht einverstanden.Als er sich schließlich mit Justi einig geworden war, schenkte er dem Museum zur Belohnung zehn Zeichnungen.Doch diese fielen 1937 der Beschlagnahmung durch die Nationalsozialisten zum Opfer.Nur in der Kunstbibliothek blieb die Kirchner-Schenkung vollständig erhalten, wenn auch mit roten Verbotstreifen überklebt.

Kunstbibliothek am Kulturforum, Matthäikirchplatz 6, bis 16.August; Dienstag bis Freitag 10-18 Uhr, Sonnabend, Sonntag 11-18 Uhr, Katalog 15 DM.

KATHRIN BETTINA MÜLLER

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