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Kultur: Grüner geht’s nicht

Dem Schriftsteller Hermann Peter Piwitt zum 70. Geburtstag / Von Matthias Altenburg

Vom Sterben sprach dieser Mann schon, als ich ihn vor fast einem Vierteljahrhundert kennen lernte. Und davon, wie ein Leben aussehen könnte, das nicht im Würgegriff der eigenen Gattung den großen Rest des Planeten der Nutzbarmachung opfert.

Dass das gerade in Arbeit befindliche Manuskript nun aber, weiß Gott, auf den Nachlassverwalter warten müsse, sagte er, als ich ihn vor 24 Jahren das erste Mal in seiner Eimsbütteler Altbauwohnung besuchte. Und dass der dicke, hochbetagte Kater, den er auf dem Arm trug, nur noch ein kleines Weilchen ausharren möge, um an seinem, an des Dichters Grab zu weinen. Gleich darauf ging Piwitt ans Fenster, zeigte runter auf eine der viel befahrenen Hamburger Straßen und erklärte dem naiv Fragenden, was er sich unter einem erträglichen Leben vorstelle: „Dass dort unten“, sagte er, die Miene zwischen Versonnenheit und Amüsement schwankend, „vielleicht eines Tages wieder Ziegen grasen werden.“

So sprach er also von den letzten Dingen, von Tod und Leben, mit einer blinzelnden Sanftmut, als wolle er andeuten, dass beides zwar ernst zu nehmen sei, aber bitte nur: in aller Bescheidenheit. Und dabei ist es, will mir scheinen, geblieben. Der rauschenden Feier des Lebens, dem barocken Vitalismus misstraut Piwitt ebenso sehr wie der raunenden Todessehnsucht. Beides durchschaut er als Maskeraden, den Künstlern abverlangt von einem Markt, der eben noch auf „das Existenzielle“ aus war, um kurz darauf die gedankenfreie Oberfläche zu feiern.

Piwitt war schon ein Grüner, als den damals tonangebenden Marxisten zur Natur nur einfiel, dass man sie beherrschen müsse. Und blieb ein Linker, als die grinsende Zukunftsgewissheit aus den Gesichtern lange gewichen war und einer schiefmäuligen Reue Platz gemacht hatte, die um nichts so sehr besorgt schien, wie darum, die eigenen Einsichten vergessen zu machen.

Unter den schlimmsten denkbaren Verhältnissen eine behütete, mehr noch: eine glückliche Kindheit erlebt zu haben – ein solcher Widerspruch macht manche Gewissheiten brüchig. Piwitt hat er misstrauisch gemacht den eigenen Programmierungen gegenüber. Gedanken, Gefühle und Bilder, die man für eingeboren hielt, werden als „gemachte“ erkannt. Wohl daraus resultiert der lebenslange Versuch, sich auf die Schliche zu kommen, indem man den Verhältnissen auf den Grund geht. Und Piwitts Vorbehalte gegen „den Roman“, zumal den „großen“, rühren wohl ebenfalls aus der Erkenntnis, dass sich Geschichte und Geschichten „so einfach“ dann doch wieder nicht erzählen lassen, wie es der einzig noch erlaubte, der amerikanische Realismus gerne wahrhätte. Also hat er Formen entwickelt, in denen die Beschreibung eines Sommertages nicht das Schweigen über den verordneten Aberglauben einschließt.

Gerade noch attestiert er dem herrschenden Wahnsystem seine Alternativlosigkeit (Man „kann zwar noch überall hin, aber nicht mehr raus“) da straft er sich aufs Schönste Lügen, indem er das Elend so berückend beschreibt, dass der Text selbst zum Gegenentwurf wird. Schon lange ist sein Motto, dass, wer von den Ofenplätzen vertrieben wurde, eben im „Kokon der Kunst überwintern“ müsse, ohne zu wissen, ob wärmere Zeiten kommen oder ob es immer kälter wird.

Das Vergnügen, Piwitt zu lesen, ist so immens, dass man um jeden seiner seltenen neuen Texte erst einmal nächtelang herumschleicht, ängstlich – nicht etwa, man könne enttäuscht werden –, sondern vielmehr, man sei womöglich nicht im nötigen Zustand der Gnade, ihn ganz zu erfassen. Denn eine solche luzide Prosa ist seit Adornos „Minima Moralia“ nicht mehr geschrieben worden. Wer eine Ahnung davon bekommen will, welche Wirkung allein die Form, der Tonfall eines Textes haben kann, der mag die erste Seite der „Rothschilds“ lesen, ein paar beliebige Zeilen aus den „Gärten im März“ oder die traumwandlerisch schöne Schwimmbad-Passage aus „Ein unversöhnlich sanftes Ende“, die mich nach der ersten Lektüre tagelang vor Glück taumeln ließ. So weit verdichtet sind die Sätze, dass man bei jedem innehalten möchte, während man schon fortgerissen wird von der tänzerischen Bewegung dieser Sprache, um sich schließlich aufs Angenehmste in ihr zu verlieren. Wie er das macht? Ich habe es nie herausbekommen. So viel Talent, möchte man neidvoll wünschen, kann ja wohl nicht erworben, das muss ja wohl doch: genetisch sein. Ihm nachzueifern wäre also, gottlob, ein aussichtsloses Unterfangen.

Eine der großen Leistungen dieses Autors besteht darin, dass er sich, wie die besten seines Fachs, unentwegt selbst ins Wort fällt. Und dass er der gewitzten Rhetorik mit einer Dialektik an den Kragen geht, die den Vorredner so alt aussehen lässt wie dieser nie hatte werden wollen. Anstatt sich aber mit ihr auszuruhen, stellt Piwitt der neu gewonnenen Erkenntnis gleich wieder ein Bein, indem er – zum Beispiel – von einer alltäglichen Begebenheit berichtet, die zu wahr ist und zu gut erzählt, um im Abstrakten aufzugehen. So zwingt er Vernunft und Schönheit in denselben Satz. So bleibt er beweglich, ohne je wendig werden zu müssen.

Nobel besteht er für sich und seine Arbeit auf Untröstlichkeit, und hat doch, wenn Bedarf ist, immer einen Trost für andere parat. Und sei es, dass er sich Jahr, Tag und Stunde der Geburt nennen lässt, um ein wenig Geduld bittet, dann wieder zum Telefon greift und verkündet, die Sterne stünden glänzend günstig und spätestens das nächste Frühjahr sei vor Glück kaum auszuhalten. Wenn es doch nur das Glück wäre, ein neues Buch von ihm lesen zu dürfen...

Der Schriftsteller Matthias Altenburg, geboren 1958, lebt in Frankfurt am Main. Zuletzt erschien unter dem Pseudonym Jan Seghers sein Kriminalroman „Ein allzu schönes Mädchen“ im Wunderlich Verlag.

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