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Erinnerung an die große Zeit. Peer Steinbrück und Günter Grass.

© dpa

Günter Grass und Peer Steinbrück: Willy Brandt wäre das nie passiert

Literaturnobelpreisträger Günter Grass und SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück fragen sich bei einer Lesung im Berliner Willy-Brandt-Haus, wo das politische Engagement der Intellektuellen geblieben ist.

Von Hans Monath

Die meisten Deutschen mögen ihre Kanzlerin schätzen, der Literaturnobelpreisträger aber spricht von ihr mit Verachtung. „Sie hat Ihnen eines voraus“, sagt Günter Grass zu Peer Steinbrück: „Sie hat eine doppelte, gesamtdeutsche Ausbildung.“ Zum einen als FDJ-Funktionärin, zum anderen bei Helmut Kohl. „In der FDJ-Zeit hat sie Anpassung und Opportunität gelernt, bei Kohl natürlich den Umgang mit Macht.“ In der Euro-Krise habe es Merkel geschafft, „zu allen unseren Nachbarn das Verhältnis zu trüben“.

Willy Brandt, so sagt Grass, wäre das nie passiert, denn der trieb die Aussöhnung mit den Nachbarn gegen Widerstand im eigenen Land voran. Um den früheren SPD- Kanzler geht es an diesem Mittwochabend im Willy-Brandt-Haus, genauer um seinen Briefwechsel mit Grass, der kürzlich als 1230 Seiten starkes Buch erschienen ist. Über den spricht der „Blechtrommel“-Autor mit Merkel-Herausforderer Steinbrück. Der Dialog handelt von Geist und Macht in der sozialdemokratischen Reformära vor einem halben Jahrhundert und von Geist und Macht heute.

Es war Anfang der sechziger Jahre, als Grass anfing, sich einzumischen. Es ist eine ungleiche Beziehung, wie sie aus den Briefen deutlich wird, die die Schauspieler Burhardt Klaußner und Dieter Mann vorlesen. Grass ist der Antreiber, Ideengeber und Besserwisser. Er warnt nicht nur vor der großen Koalition, sondern kümmert sich auch um die Rhetorik Brandts: „Legen Sie es mir nicht als Besserwisserei aus, wenn ich auf die verschwimmenden Satzenden hinweise.“ Brandt antwortet oft kürzer, manchmal entzieht er sich den anstrengenden Zumutungen. Am Ende werden es 288 Briefe sein, die sich der Autor und der Politiker zwischen 1964 und 1992 schreiben.

Es ist eine Zeit des Aufbruchs, eine Zeit der Möglichkeiten. Unermüdlich ackert der Schriftsteller damals, mit ungeheurem Einsatz will er die SPD zum Positiven verändern. Brandt, so sagte er, habe er vor allem deshalb bewundert, weil dieser schon als junger Mann den Nationalsozialismus durchschaut hatte. Er selbst habe „wie ein Idiot bis zum Schluss an den Endsieg geglaubt“. Wer Grass über Politik reden hört, erlebt einen aufmerksamen, kenntnisreichen, leidenschaftlichen Bürger der Republik, der alle Nachrichten verfolgt und aus linker Perspektive scharf bewertet: Das Land ist gespalten, die Schere zwischen Reich und Arm geht „in nicht entschuldbarem Ausmaß“ weiter auf. Manchmal sind auch böse Mächte im Spiel: „Wir alle wissen, dass das Parlament umlagert ist von einer mächtigen, allmächtigen Lobby. Und nichts geschieht dagegen.“

Beim Thema Bundeswehr streiten sich Grass und Steinbrück kurz

Vielleicht ist es gerade diese intellektuelle Zeitgenossenschaft, die die politischen Fehlurteile des Schriftstellers um so verstörender macht, nicht nur sein spätes Eingeständnis, Mitglied der SS gewesen zu sein. Die Empörung war groß, als er 2012 Israel in einem Gedicht vorwarf, das Land gefährde „den ohnehin brüchigen Weltfrieden“. Damals verteidigte ihn SPD-Chef Sigmar Gabriel.

Israel ist an diesem Abend kein Thema, dieses politische Minenfeld bleibt dem Wahlkämpfer Steinbrück erspart. Doch einmal widerspricht der Kandidat seinem Wahlhelfer heftig. Mit der Abschaffung der Wehrpflicht sei die Bundeswehr zu einer „Söldnerarmee“ verkommen, in der junge Deutsche „in Auslandseinsätzen verbraten werden, gegen Bezahlung“, grollt Grass. Da streckt Steinbrück den Zeigefinger aus, ruft laut „Im Gegenteil!“ und erklärt, warum die Bundeswehr wertvoll sei und wichtig.

Der Kandidat wird ein bisschen sentimental, wenn er das Engagement des geistigen Deutschland vor einem halben Jahrhundert vergleicht mit dem der Gegenwart. Damals seien Intellektuelle viel eher bereit gewesen, sich einzumischen: „Ich würde mir heute sehr viel stärker wünschen, dass sie es wieder tun“, meint er und urteilt: „Still ruht der See.“

Grass hat eine Erklärung dafür. Das Leben seiner Generation sei durch Krieg und Zusammenbruch erschüttert gewesen: „Wir waren gebrannte Kinder“. Wer im Frieden aufwachse, kenne solche Herausforderungen nicht. Trotzdem hätten die Menschen 1945 eine Vorstellung von der Zukunft gehabt, was jetzt anders sei: „Wenn ich meine Kinder und Enkelkinder angucke, stelle ich mit Entsetzen fest, dass dieser Gestaltungsraum kleiner geworden ist, dass vieles vor- und fremdbestimmt ist von Mächten, die eigentlich nicht mehr richtig namhaft gemacht werden können im Zuge der Globalisierung.“

Optimismus jedenfalls klingt anders. Der SPD-Politiker, dem Fatalismus eigentlich fremd ist, widerspricht seinem Wahlhelfer nicht. Dessen letzter Wunsch gilt ebenfalls dem Merkel-Herausforderer: „Ich hoffe, dass ich Ihnen so unbequem geworden bin, wie ich gelegentlich Willy Brandt unbequem sein durfte.“ Ganz so viel Einfluss hat der Autor auf den Kandidaten an diesem Abend wohl nicht gewonnen, aber im Willy-Brandt-Haus wird heftig geklatscht.

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