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Kultur: Güte, gewaltiges Land Stéphane Hessel im Berliner Literaturhaus

Noch gibt es sie, die Generation derer, die während der Schulzeit Gedichte auswendig lernten und diese bis heute aufsagen können. Die nachfolgenden Generationen wissen allenfalls, wo sie stehen – neuerdings meistens „im Netz“.

Noch gibt es sie, die Generation derer, die während der Schulzeit Gedichte auswendig lernten und diese bis heute aufsagen können. Die nachfolgenden Generationen wissen allenfalls, wo sie stehen – neuerdings meistens „im Netz“. Dem 1917 in Berlin geborenen Diplomat Stéphane Hessel, Sohn des Schriftstellers Franz Hessel und der Modejournalistin Helen Grund, ist das Auswendiglernen von Lyrik auch außerhalb der Schulzeit zur Passion geworden. Das begann mit Edgar Allen Poes Gedicht „Helen“, das er als Junge lernte, um seine Mutter zu beeindrucken. Und setzt sich fort mit La Fontaine, den er den Eltern rezitierte, nachdem die Familie 1924 nach Frankreich übersiedelte.

Als er 1944 von der Gestapo verhaftet wurde, schrieb er die erste Zeile von Shakespeares Sonett Nr. 71 auf einen Zettel, als Botschaft an seine Frau: „No longer mourn for me when I am dead“. An seinem 88. Geburtstag fragte er sich, was wirklich wichtig gewesen war in seinem Leben – und stieß auf 88 Gedichte, die er in sich selbst versenkt hatte und die größtenteils von der Liebe und dem Tod handeln. Die stellte er zu einer dreisprachigen Anthologie im Grupello Verlag zusammen, die sein bewegtes Leben spiegelt: ein Selbstporträt in Gedichten.

Von Hessels Gedichtegedächtnis, aber auch von seinen Entertainer-Qualitäten konnte man sich nun im überfüllten Literaturhaus überzeugen. Als „Dichter ohne eigene Gedichte“ hatte Peter von Becker ihn vorgestellt. Der letzte noch lebende Verfasser der UN-Charta der Menschenrechte gab sich launig und von heiterster Humanität, rezitierte, plauderte und kalauerte nach Herzenslust.

Dass Poe der Beginn von Po-esie sei. Dass Goethe schlecht, Hölderlin und Hofmannsthal dagegen gut auswendig zu lernen seien – zumindest für ihn. Dass er für jedes Gedicht rund drei Tage brauche: „Wenn es aber drin ist, hält es meistens.“ Telefonnummern und Namen dagegen könne er sich schlecht merken, was in seiner Diplomatenlaufbahn nicht unbedingt vorteilhaft gewesen sei. Dass man das Leben erst verstehen werde, wenn man tot ist. Und dass Buchenwald kein Ort zum Urlaub machen sei, weil dort immer schlechtes Wetter herrsche, zumindest an den Jahrestagen der Befreiung, an denen er als ehemaliger Häftling des Öfteren teilnahm.

Nicht zuletzt deshalb dürfte es wohl in der Tat ein Vers von Apollinaire sein, der Hessels eigene Erfahrungen, sein politisches Anliegen und seine in ihm versunkenen Gedichte kongenial zum Ausdruck bringt: „Wir wollen die Güte erforschen gewaltiges Land drin alles schweigt.“ Güte, das ist so ein Wort, das nur wenigen steht. Bei Stéphane Hessel passt es. Weil sein Kulturbeutel Gedichte enthält, wo beim Normalmenschen nur eine Zahnbürste mahnt. Thomas Wegmann

Thomas Wegmann

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