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Gustav Mahler auf der Überfahrt von New York nach Europa.

© picture-alliance / maxppp

Gustav Mahler: Erlösung dem Erlöser

Liebling der politisch Korrekten: Vor 100 Jahren starb der Komponist Gustav Mahler. Heute wünscht man sich weniger Ideologie – und mehr Musik.

Im September/Oktober 1977 wird Hanns Martin Schleyer von der RAF entführt und ermordet. Die Konterfeis der Terroristen hängen in jedem Postamt, die kleine Bundeshauptstadt Bonn gleicht einer Festung. Panzer fahren Patrouille, Bannmeilen werden verhängt, Stacheldraht überall – Deutschland im Herbst. Man liest Bölls „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“, sieht Viscontis „Tod in Venedig“ – und hört Gustav Mahler (nicht nur das mit Visconti berühmt gewordene Adagietto aus der fünften Symphonie). Wächst mit ihm auf, glaubt, alle klassische Musik illustriere die eigene Gegenwart, fühle ihr und nur ihr und nur uns den Puls. Und wird lange nichts anderes suchen in der Kunst.

Zwei Jahre später, 1979, präsentiert die Düsseldorfer Tonhalle ihren ersten vollständigen Mahler-Zyklus, alle neun Symphonien, die „Kindertotenlieder“ und das „Lied von der Erde“ eingeschlossen. Die Dirigenten heißen Rafael Kubelik, Bernhard Klee, Jury Ahronovich oder Hiroshi Wakasugi, sehr ordentliche Kapellmeister. In Persien bricht die islamische Revolution aus, im Irak ergreift Saddam Hussein die Macht, als erster westlicher Popstar gibt Elton John in Leningrad ein Konzert, und Deutschland schließt ein Kulturabkommen mit China. Das alles dringt wie durch Watte zu mir, sonderlich politisch bin ich nicht. Von Bonn nach Düsseldorf aber ist es nicht weit.

Dort erlebe ich zum ersten Mal die Lindenbaum-Episode in der ersten Symphonie („Der Titan“), die Hammerschläge der Sechsten, die Siebte mit ihren beiden Nachtmusiken und träume davon, im Leben etwas so Existenzielles zu tun, stärker als der Tod. Oder gleich selber zu sterben. „Protest ist, wenn ich sage, das und das passt mir nicht. Widerstand ist, wenn ich dafür sorge, dass das, was mir nicht passt, nicht länger geschieht“, schreibt Ulrike Meinhof 1968. Solche Radikalität und Todesverachtung bleibt mir nicht nur kraft meiner Generation fremd.

Die Mahler-Welle, die die BRD Ende der Siebziger-, Anfang der Achtzigerjahre erfasst, ist die zweite in der noch jungen Rezeptionsgeschichte des Komponisten. Die erste rollt 1960 an, 15 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs und rechtzeitig zu Mahlers 100. Geburtstag. Theodor W. Adornos fulminante Mahler-Bibel („Eine musikalische Physiognomik“) erscheint und ein Jahr später erlischt das große Recht: Mahler aufzuführen, wird endlich erschwinglich. Ebenfalls 1961 kommt Kurt Blaukopfs Mahler-Biografie auf den Markt, 1973/74 die des Franzosen Henry-Louis de la Grange. Der Komponist Karlheinz Stockhausen hat für Mahlers „rätselhafte Popularität“ (Carl Dahlhaus) früh ein feines, kritisches Gespür, als er prognostiziert: „Man wird Filme auf Filme über Mahlers Leben drehen. Generationen von Regisseuren werden eine Auferstehung Mahlers nach der anderen feiern und die Fernsehzuschauer das Buch de la Granges in merkwürdigsten Bilderketten durchrasen.“

Abgesehen von Ken Russells Leinwand-Opus „Mahler“ (1974) und dem üblichen Jubiläums-TV (aktuell Percy Adlons „Mahler auf der Couch“, am 18. Mai um 0 Uhr 35 in der ARD; „Auf der Suche nach Gustav Mahler“ mit dem amerikanischen Bariton Thomas Hampson, am 21. Mai um 20 Uhr 15 auf 3Sat) ist es dazu nie wirklich gekommen. Allen schrillen Eskapaden seiner Frau Alma zum Trotz verläuft Mahlers Leben vor allem arbeitsam, zwischen den als Fron empfundenen Ämtern in Kassel, Budapest, Hamburg oder Wien und den manisch-produktiven Sommerfrischen. Sein Medium, seine „zweite Existenz“ wird die Schallplatte, nicht der Film. LP und Stereotechnik bringen Raum und Zeit seiner Werke in einer Weise zur Geltung, die den Kopfhörer emanzipiert und legitimiert, das Hören für sich allein. „Tradition ist die Weitergabe des Feuers und nicht die Anbetung der Asche“ – Mahler-Sätze wie dieser lassen sich auf der Straße so gut ausleben wie auf dem heimischen Sofa.

Gleichwohl hat Stockhausen natürlich Recht: Das Phänomen Mahler besitzt Kintopp-Qualitäten. Die sechziger Jahre wirbeln schließlich nicht nur „den Muff von tausend Jahren“ auf, sondern sind auch Gunther Sachs und Brigitte Bardot, Farbfernsehen, Wirtschaftswunder, Ferien in Italien. Bis heute gilt Gustav Mahler als Galionsfigur der ’68er. In den Städten wird demonstriert, in den Hörsälen tanzen Barbusige auf den Tischen – und Mahler liefert dazu, als wäre die gesellschaftliche Realität selbst ein Film, die Musik. 60 Jahre zuvor hat er das System Symphonie revolutioniert: durch die schieren Längen seiner Partituren, durch ein trivial-exotisches Instrumentarium (Kuhglocken inklusive), durchs Auskosten der tonalen Grenzen. Bei Mahler spricht die Musik Dialekt, sie darf volkstümlich sein und zugleich in den höchsten Tönen von letzten Dingen reden. Das Naive, sagt er, wird durch das Sentimentalische, Aufgeklärte nicht überwunden, sondern tritt umso deutlicher hervor – als etwas Kostbares, zu Verlierendes.

Zwischen 1960 und '67 nimmt der US- amerikanische Dirigent Leonard Bernstein mit dem New York Philharmonic Orchestra den ersten Mahler-Zyklus der Schallplattengeschichte auf. Mahler avanciert endgültig zum Weltumarmungszyniker und Katalysator aller zerrissenen Seelen. Dabei gleichen sich die Argumente seiner Freunde und Feinde oft aufs Haar. Die Zitathaftigkeit der Musik, ihre Dekonstruktionen, ihr notorisches sich „Ausgenießen“ (Alban Berg) bis zur völligen Entgrenzung und Erschöpfung, das Uneigentliche, die Ironie, Talmiglanz und Katzengold – das stößt viele ab; gleichzeitig zieht die Schärfe und Suggestivität seines Geistes, die Virtuosität der Instrumentationen, seine Welt- und Zeitfühligkeit viele an. In den achtziger Jahren riskiert Bernstein einen zweiten Zyklus, diesmal mit den Wiener Philharmonikern. Zur ersten Probe erscheint der Maestro im „I Like Mahler“-T-Shirt. Die ehrenwerten Musiker sind entsetzt. Klassik goes Pop?

Gustav Mahler war zu dieser Zeit keine 70 Jahre tot, gestorben am 18. Mai 1911 im Sanatorium Loew im IX. Wiener Bezirk an den Folgen einer Herzmuskelinfektion. Eines der letzten Fotos zeigt den Komponisten und weltberühmten Dirigenten 1910 auf der Schiffspassage aus New York zurück nach Europa, von Krankheit gezeichnet. Eine zerbrechlich- chaplineske Figur lehnt da an der Reling, ein Bein lianengleich ums andere geschlungen, den Stock wie eine Harpune in die Bordplanken gespießt. Der Tod grüße hier aus jeder Pore, schreibt Jens Malte Fischer 2003 in seiner Monografie „Der fremde Vertraute“. Im Finale seiner neunten und letzten Symphonie lässt Mahler prompt die Streicher allein spielen: „Adagissimo“, sagt die Partitur, „mit inniger Empfindung“ und „mit Dämpfer“ (die ersten Geigen „stets ohne“, was für eine Inszenierung!), alles im dreifachen Pianissimo, „ersterbend“ am Ende. Was soll nach dieser Musik kommen? Zerfall, Auflösung, Auslöschung? Zwei Weltkriege? Die Kapitulation aller Kultur?

Wie kein anderer Komponist ist Gustav Mahler außermusikalisch interpretiert, ja ausgeweidet worden. Bis 1945 beherrscht der Antisemitismus den Diskurs, Mahler ist von Geburt Jude und gilt den Nazis als Inbegriff des entarteten, „kranken“ Künstlers. 1960 dann reklamieren ihn die „Guten“ für sich, die Kritischen und dialektisch Aufgeklärten, die wahrheitssuchenden Söhne, Adorniten und Post-Adorniten. Hinter diesem gewachsenen Bollwerk aus linker Intellektualität und political correctness wieder zur Musik selbst vorzudringen und herauszufinden, wie sie ohne ideologische Aufladung klingt, und ob wir je die Ohren dazu hätten – das ist nicht leicht. Das Mahler-Jubiläumsjahr 2010 (zur Feier seines 150. Geburtstages) hat sich hier leider ausgesprochen bedeckt gehalten.

Paradigmatisch in diesem Zusammenhang ist das Finale der sechsten Symphonie, komponiert 1903/04, und wie dessen „Katastrophenstimmung“ den Ersten Weltkrieg ruchbar mache. Musikhistorisch ist das allemal interessant. Aber ist Mahlers Formensprache – das „Marschieren in den Abgrund“, das zu Scheiterhaufen aufgetürmte Themenmaterial – auch 100 Jahre später noch katastrophentauglich? Ändert sich ein ästhetisches Empfinden nicht mit dem Kriegsgerät, der Technik, den Menschen? Gustav Mahler habe die Zukunft vorweggenommen, schreibt der Mahler-Forscher Constantin Floros 2010: „Immer wieder entdeckt man in seinen Werken Keime, die viel später erst zum Tragen kamen.“ Die Frage ist nur, was wird, wenn die Zukunft wirklich eintrifft: Hat die Musik ihre Schuldigkeit dann getan – oder gelten ihre Botschaften ewig, jederzeit anders und neu?

Zugespitzt formuliert: Ist Mahlers Symphonie Nr. 6 in a-Moll die angemessene Musik, um über Fukushima zu meditieren? Hilft sie uns, als ein Reservoir des gefassten, gestalteten, komponierten Schreckens, Mensch zu bleiben?

Nächsten Mittwoch wird Gustav Mahler 100 Jahre tot sein, und mit jedem weiteren Tag häuft sich mehr Wirklichkeit, mehr Zeitgeschichte auf sein Oeuvre: von der Erfindung des Penicillins oder der Pille bis zum 11. September, von der deutschen Teilung und Wiedervereinigung bis zur Kinderpornografie im Internet. All die Brüche und Absurditäten in unserem Welt-, Selbst- und Kunstverständnis, alles Montierte, Collagierte, Kolportierte scheint bei ihm Zuflucht zu suchen. Eine grandiose Überforderung, gewiss. Andererseits ist Mahler der letzte, dem eine so breite gesellschaftliche Akzeptanz vergönnt ist. Mit seinem Schüler, dem Zwölftöner Arnold Schönberg, sagt der Dirigent Michael Gielen, wäre das schon nicht mehr möglich gewesen. Und Pierre Boulez, der Komponist und Dirigent, berichtet von Abo-Konzerten der Wiener Philharmoniker aus Anlass seines, Boulez’, 80. Geburtstages im April 2010, für die etliche Abonnenten vorsorglich ihre Karten zurückgaben. Auf dem Programm standen Janaceks Glagolithische Messe und Strawinskys Psalmen-Symphonie. Für das bürgerliche Musiklager ist Mahler – ohne den weder das eine noch das andere Werk denkbar wäre – definitiv der letzte Mohikaner.

Dabei stimmt es bedenklich, dass das, was er ästhetisch in die Zukunft hineingepflanzt hat, so gut wie keine Resonanz mehr findet, ja dass der gesellschaftliche Diskurs über Musik just an dieser Stelle abzubrechen scheint. Nach der neunten Symphonie kommt die Zwölftontechnik, mit der bis heute, über 100 Jahre nach ihrer Erfindung, kaum jemand etwas zu tun habe möchte. Was Gustav Mahler antizipiert, den Zerfall und den Aufbruch der Welt zu neuen Ufern, schlägt unweigerlich aufs System, auf den bürgerlichen Musikgebrauch zurück. Als fräße die Revolution ihre Kinder. Als sei die Musik auf Transzendenz und das bessere, schönere, richtigere Leben abonniert. Als sei es Verrat, wenn nichts mehr kommt, kein nächster Satz, kein C-Dur, kein „letzter Waldspaziergang“ (Max Ernst).

Mahler aber ist kein Klassiker wie Beethoven oder Bruckner, und das heißt: Für den postmodernen Konzertbetrieb mit seinen rituellen Vereinnahmungs-, Verschleiß- und Popularisierungserscheinungen taugt er schlecht. Mahler-Aufführungen brauchen das Ereignishafte und speisen sich aus einem Hörer-Selbstverständnis, das sich in Opposition weiß zu dem, was ist. Konnte man sich 1968 mit Mahler noch als widerständig begreifen, kehren mit der Festigung seiner Präsenz in den unpolitischen achtziger Jahren die alten Vorurteile zurück. „Mahler ist der typische Jugendstil- Modekomponist, natürlich noch viel schlechter als Bruckner, der ja mit Mahler sehr viel kitschige Ähnlichkeiten hat“ – ätzt Thomas Bernhard 1988 in seinem Roman „Alte Meister“. Ein Jahr später bricht mit dem Sozialismus das Denken in antagonistischen Gesellschaftssystemen zusammen. Zufall?

Heute leben wir ein maximal entfremdetes Dasein. Die Chiffre dafür bietet der 11. September 2001: Die Flugzeuge, die ins World Trade Center rasen, führen mit anarchisch-anarchistischer Energie und Grausamkeit vor Augen, wie verletzlich unsere einzige freie Welt ist, und daran dürfte sich mit dem Tod Osama Bin Ladens wenig geändert haben. Alles Existenzielle findet fast nur mehr medial vermittelt statt, in virtuellen Räumen und auf elektronischen Wolken. Genau das meint Karlheinz Stockhausen, als er im fernen Kürten wenige Tage nach 9/11 die faszinierende Schönheit der New Yorker Bilder preist und dafür fast gelyncht wird: „Was da geschehen ist, ist natürlich – jetzt müssen Sie alle Ihr Gehirn umstellen –, das größte Kunstwerk Luzifers, das es überhaupt gibt für den Kosmos.“

Moderne und Postmoderne haben Gustav Mahler, wie gesagt, viel abverlangt: Welt- und Selbstauskünfte zu geben, die Couch zu sein für unsere Urängste, Urzweifel, unser Chaos. Daniel Barenboim nennt das den „psychoanalytischen Kontext“ seiner Musik. Und wie man eine Therapie bisweilen mit dem echten Leben verwechselt, indem man das Leben vergisst oder sich in den Therapeuten verliebt, so ist heute alles Kunst und so gut wie nichts mehr politisch – und die Mahler-Exegese, das Mahler-Parteiabzeichen längst an die Stelle aller Musik gerückt. Paradox: Ausgerechnet Gustav Mahler, der Hüter der doppelten Böden und bösen Banalitäten, der Komponist der ’68er, der Zweifler des Erhabenen, bräuchte dringend eine konservative Rehabilitierung und Erlösung.

Wie immer bei großer Kunst aber wird auch umgekehrt ein Schuh daraus. Seit dem 11. September hat sich unsere Wahrnehmung unendlich vervielfältigt, alles scheint in Apps und Bits und Bytes nur mehr dritte, vierte, fünfte Existenzen zu führen. Die Musik Gustav Mahlers mit ihren offenen Poren könnte Anleitung sein, wie diesem flüchtigen Dasein und medialen Dauerrauschen, diesem Kracauer’schen „Schneegestöber“ ein Lot abzutrotzen sei, ein glaubhaftes, praktikables, nicht nur konsumorientiertes. Die Musik an sich, sagt Mahler, erhebt den Menschen weder zum Göttlichen noch zum Luziferischen, sondern immer nur zu sich selbst. Insofern ist der Vorgang des Hörens und Zuhörens heute so existenziell und so politisch wie nie.

Gustav Mahler wird am 22. Mai 1911 in einem Ehrengrab der Stadt Wien auf dem kleinen Grinzinger Friedhof beigesetzt. „Es regnet“, berichtet der Journalist und Augenzeuge Paul Stefan. „Über einen Weinbergweg kommen wir rascher an das Grab. Der Zug langt an. Der Regen hört auf. Eine Nachtigall singt, die Schollen fallen. Ein Regenbogen. Und die Hunderte schweigen.“

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