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Kultur: Hab und Flut

Wasser ist unser Lebensstoff. Eine elementare Gabe – und zugleich eine ungeheure Bedrohung. Zum Kollaps der Kultur in der Katastrophe

Von Hartmut Böhme

Wenn man in 11 Kilometer Höhe über die Weiten Sibiriens fliegt, nur dann und wann die geometrischen Zeichen der Zivilisation entdeckt und die gewaltigen Flusstäler überblickt, die unter den endlosen Eisflächen eingefroren sind, dann begreift man zweierlei: Auch sechs Millarden Menschen sind im Reich der Natur eine Minderheit, so triumphal sich der Mensch als „Herr und Besitzer der Erde“ (René Descartes) auch aufspielen mag. Und: Von oben betrachtet sind die Flüsse nicht mehr als Einkerbungen in die Landmassen, die wiederum nur Erdschollen im Rund der Ozeane darstellen.

Das Wasser ist ungeheuer. Es ist unser Lebensstoff: Der griechische Philosoph Thales nannte es den „Urgrund“, aus dem alles wird und vergeht. Das System der Meeresströmungen, der Wasseraustausch zwischen den Ozeanen und dem Land durch die Wolken wie durch die Rückkehr alles Fließenden zum Mutter-Meer: eine Energiemaschine von unvorstellbarer Dimension. Im Vergleich dazu schwindet alles Menschenwerk, das nicht zuletzt auf der Kunst der Energieerzeugung beruht.

Wasserwesen Mensch

Auf der Sonneneinstrahlung, dem Wasserkreislauf, dem Regime der Winde beruht das Klima, von dem unser Leben abhängt. Auf Gedeih und Verderb. Das Gedeihen nehmen wir gern an. Es gehört zu den großen kulturgeschichtlichen Leistungen, dass die Menschen das Wasser vielfältig zu nutzen lernten. An Flüssen entstanden die ersten Hochkulturen. Keine Stadtgründung ohne primäre Wasserversorgung. Keine Agrikultur ohne Regelung des Wasserhaushaltes, sei es durch Bewässerungen von Trockengebieten, sei es durch kluges Wasserabzugs-Management in hydriden Regionen. Große Bedeutung haben Flüsse und Meere auch für die Entstehung von Fernhandel und Kulturaustausch, ebenso für die Bildung von Imperien. Erst der Mensch, der sich vom Land zu lösen vermag, betritt recht eigentlich den Globus.

Stets fließt das Grundnahrungsmittel Wasser durch uns hindurch. Wir selbst, die wir überwiegend aus Wasser bestehen, könnten sagen, wir seien nichts als intelligentes Wasser. So ist Wasser eine elementare Gabe; in allen Religionen und Philosophien der Welt finden wir dafür Zeugnisse der Dankbarkeit.

Aber auch das Verderben kann durch Wasser über uns kommen. Nichts reißt so sehr aus dem Kontinuum der Zeit heraus wie die Katastrophe. Sie ist die Erfahrung einer Übermacht, die alle Grenzsicherungen der Zivilisation durchschlägt und uns in reine Gegenwart bannt: in die Angst. Das Wasser wird zum Feind, gegen den wir unser Leben, sodann Hab und Gut verteidigen. Auch dies ist eine kulturelle Universalie.

Kultur schafft einen Binnenraum: als System von Abwehrmechanismen gegen mögliche Katastrophen. Wo immer wir Wind und Wetter, Wasser und Feuer, schutzlos ausgesetzt sind, bleiben wir an ein rudimentäres Niveau kultureller Reproduktion gefesselt. Alle Kulturen haben deshalb versucht, die Grenzen dieses Binnenraumes zu erweitern. Das Sicherungssystem Kultur erzeugt verlässliche Ordnungen, stabile Sozialbeziehungen und Zukunftsvertrauen. Im Katastrophenfall, wir haben es dieser Tage erlebt, ist es wichtig, dass Krisenmanagement und Solidarität die sozialen Bindekräfte nicht vollends kollabieren lassen. Katastrophen schlagen leicht in gesellschaftliche Barbarei um. Sie sind immer auch Bewährungsproben für die politische Führung wie die symbolische Ordnung und Bindekraft einer Gesellschaft, die nur überleben kann, wenn sie über die Fähigkeit zur Solidargemeinschaft verfügt.

Schon immer unternahmen die Mitteleuropäer große Anstrengungen, um dem periodischen Ansturm der Fluten zu trotzen und der Unwirtlichkeit des Wassers Anbauflächen und Verkehrswege abzugewinnen. Seit Jahrhunderten schützen Dämme, Deiche und Wehre vor Hochwassern. Die mäandernden Verläufe wurden begradigt, Auen und Brüche in Ackerland verwandelt. Die Flüsse wurden als Handels- und Transportwege ausgebaut, zur geregelten Bewässerung genutzt, in Talsperren eingefangen, als Territorialgrenzen gesetzt oder umgekehrt mit Brücken überspannt. Bis heute hängen die gesellschaftliche wie die industrielle Entwicklung von einem klugen Wasser-Regime ab.

Doch die Ambivalenz des Wassers wird dadurch nicht aufgehoben. Seine zerstörerische Potenz demonstriert die Verletzlichkeit der kulturellen Einrichtungen. Immer wieder führten Stark- oder Dauerregen, Schneeschmelze und Eisgang zu Überschwemmungen mit dramatischen Folgen für Menschen, Vieh, Äcker und Behausungen. Aus der Epoche der kleinen Eiszeit (1550–1850) sind viele Berichte über verheerende Flutkatastrophen bekannt. Wir kennen für das letzte Jahrtausend die Minima und Maxima, die periodischen Häufungen und aperiodischen Spitzenwerte des Hochwassers. Wir nennen die Flut dieser Tage ein „Jahrhundertereignis“, dennoch ist dieses nicht singulär. Klimahistoriker wie Rüdiger Glaser nennen das Hochwasser von 1342 einen hydrologischen Super-Gau. 1595 überrollte eine frühjahrliche Hochwasser-Sequenz den Nürnberger Raum. Das Michaelis-Hochwasser von 1732 zerstörte weite Teile Frankens. 1784 folgte die größte Flutwellen-Katastrophe Mitteleuropas der jüngeren Geschichte.

In unserer säkularisierten Gesellschaft werden solche Ereignisse weder als göttliche Strafgerichte noch als dunkle Schicksalsschläge verarbeitet. Wir wissen zu viel und können zu wenig. Wir wissen oft bis ins Detail, wie es zu einer Wetter-Singularität wie der in den letzten Wochen hat kommen können. Dabei erinnern wir uns einer anderen „Botschaft“: dass nämlich alle Kultur, so autark sie sich stilisieren und so imposant sie sich aufrichten mag, von der Natur abhängig und gefährdet bleibt. Die Versicherungsanstalt „Kultur“ ist selbst endlich, hinfällig.

Hinzu kommen heute die menschlichen Eingriffe ins Klima und in die Landschaft. Sie werden selbst zu Faktoren, die Katastrophen mit auslösen können. Der Wärmeanstieg verringert zwar die Hochwasser durch Schneeschmelze und Eisgang; doch zugleich provoziert er extreme Wetterlagen mit Starkregen- und Orkan-Ereignissen. Hochwasserschutz und Flussverbauungen, die Vernichtung der Auen als natürliche Überlaufbecken, die Erhöhung der Fließgeschwindigkeit und der Pegelstände durch „Einsperrung“ der Flüsse in schifffahrtstaugliche Rinnen – all dies zeigt, dass kulturelle Selbstbehauptung auch die Gefahren vergrößert, vor denen sie schützen soll.

Terroristin Natur

Dieser Dialektik ist nicht zu entkommen. Zu ihr gehört auch, dass es einen fatalen Zusammenhang zwischen der Bevölkerungsdichte und der Intensität von Katastrophen gibt. Je kompakter die Besetzung natürlicher Räume durch Einrichtungen der Zivilisation, umso schwerwiegender die Katastrophe. Wir haben es mit einem neuen „katastrophalen Paradox“ zu tun: Die Angriffe auf die Grenzen des humanisierten Raums haben ihren Ursprung immer mehr im Zentrum der Kultur selbst. Dies haben auch die Terroristen und Akteure deregulierter Gewalt verstanden. Sei es die Natur, sei es Menschenwerk: Katastrophen sind Explosionen unkalkulierbarer Gewalt – Anschläge aus dem „schlafenden“ Untergrund der Zivilisation. Beides skandalisiert unser fetischistisches Sicherheitsbedürfnis, unsere Sensationsgier, unsere Angst. Und beides erinnert uns an die wachsende Verletzlichkeit unserer Gesellschaft, die Menschen, Sachwerte und hochrangige Symbole immer dichter zusammenrückt. Der 11. September zeigt es ähnlich wie das jetzige Hochwasser: Der zweite Schritt nach dem Entsetzen und dem „Aufräumen“ ist die Kalkulation der Kosten und die Diskussion über die Werte, über die Gesellschaften sich identifizieren und erhalten.

Der Dichter Tschuang-Tse ließt um 300 v.Chr. den Herren des Meeres sagen: „Ausdehnung kennt keine Grenzen; Zeit kein Stillstehn; Schicksal kein Gleichmaß; Werden keine Sicherheit.“ Die Hochwasser von Dresden, Pirna, Passau, Grimma, Meißen, Bitterfeld haben es uns wiederum gelehrt.

Der Autor lehrt Kulturwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität.

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