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Kultur: Halfpipe mit Sozialgefälle

Erich Kästner, aufgefrischt: „Pünktchen trifft Anton“ im Grips-Theater.

Da haben sich zwei gefunden: Erich Kästner, der große Satiriker und Realist der Weimarer Zeit, dessen Kinderbücher den Jüngsten erstmals auf Knickerbocker-Höhe begegneten. Und Volker Ludwig, der große Vater des Grips-Theaters, der die erzählenswerten Themen für Klein und Älter auch schon immer an der nächsten Straßenecke witterte. Lebensnähe hier wie dort. Von der Seelenverwandtschaft der beiden Berliner Kinderversteher waren sogar die Kästner-Erben überzeugt, die Ludwig ungewöhnlich freie Hand ließen bei der Dramatisierung der Geschichte von „Pünktchen und Anton“. Die steht heute in der 129. Auflage in den Buchläden und will einfach nicht altern. Reiches Mädchen schließt Freundschaft mit armem Jungen und pfeift auf die Meinung der anderen – der Plot hat genügend utopisches Potenzial, um noch ein paar Generationen in einer ungerechten Welt zu überdauern.

Ludwig, seit dieser Spielzeit nicht mehr Leiter, aber weiterhin Geschäftsführer, Hausautor und Geisthüter des Grips-Theaters, holt den Stoff aus dem Wirtschaftskrisenjahr 1931 in die Gegenwart. „Pünktchen trifft Anton“ hat er seine Fassung genannt. Die geht schön eigenwillig mit dem Original um, lässt aber zu jeder Sekunde das Kästnersche Herz schlagen. Regisseur Frank Panhans und der neue Grips-Chef Stefan Fischer-Fels als Dramaturg bringen die Version mit Verve auf die Bühne. Eine Art Skaterpark mit Halfpipe und Sozialgefälle haben die Ausstatter Jan Schroeder und Maria-Alice Bahra gebaut, mit Videowand im Hintergrund, die schnell mal vom Luxuswohnzimmer zur Metropolenkulisse switcht. Klassische Kästner-Moderne.

Luise Pogge, genannt Pünktchen, ist jetzt nicht mehr die Tochter eines Spazierstockfabrikanten, sondern wächst in der Zehlendorfer 12-Zimmer-Villa eines dauerbeschäftigten Immobilienmagnaten (René Schubert) und einer schrillen Charity-Lady (Katja Hiller) auf, die sich Schnäppchen-Jacken für tausend Euro gönnt. Anton Gast ist jetzt ein Junge ohne Pass, dessen Mutter (Regine Seidler) mit ihm aus Weißrussland fliehen musste und in ständiger Angst vor Entdeckung in einem Weddinger Rattenloch wohnt. Zwei auf ihre Art unbehauste Großstadt-Kids.

Pünktchen und Anton begegnen sich am Bahnhof Friedrichstraße, wo das Mädchen seinem amerikanischen Au-Pair-Girlie (Alessa Kordeck) beim musikalischen Betteln für den Tunichtgut-Freund Bobby (Robert Neumann) zusehen muss. Anton treibt es zum Flaschensammeln und Lebensmittelhamstern unter die Dönerbudenbesitzer und Schluckspechte der Mitte Berlins. Der hat Komponist Wolfgang Böhmer einen von vielen tollen Songs angedichtet, die mit pointierten Texten Drive und Kolorit entfalten: „Man geht glotzen fressen shoppen und steht dauernd im Stau / Denn die Friedrichstraße ist seit zwanzig Jahren im Bau.“

Der furchtsame Anton kann sich des nassforschen Pünktchens nicht lange erwehren. Wie sich die beiden – wohl etwas älter als im Buch – beim Mülltonnenpaprika-Schnippeln und beim Lied „Ich hab dich gern“ näher kommen, das geht einfach zu Herzen. Auch, weil Jennifer Breitrück und Florian Rummel in den Hauptrollen sensationell gut sind. Sie als stürmische Gerechtigkeitsgläubige mit Mut und Köpfchen, er als getriebener Überlebenskämpfer mit trotzigem Reststolz. Überhaupt: Die Figuren stimmen. Vom patenten Kindermädchen Berta im Harry-Potter-Fieber (Michaela Hanser) bis zum verschlagenen Hausmeistersohn Klette (Roland Wolf), der Bösewicht Bobby den Einbruchsplan für die Pogge-Villa zuschanzt. Was die Gelegenheit für Anton ist, sich als Held zu beweisen. Wobei Volker Ludwig sein Happy-End dann doch mit etwas mehr Hintersinn als Kästner ausstattet.

Und die Moral von der Geschicht’? Keine Bange. Ludwig, Böhmer, Panhans, Fischer-Fels und das Ensemble haben einen echten Grips-Hit geschaffen. Dazu gehört der Glaube an die Veränderbarkeit der Welt. Weder fehlt die Läuterung der Charity-Lady, die mehr Zeit mit der Tochter zu verbringen gelobt, noch der Appell im Geiste Elie Wiesels, wonach kein Mensch illegal ist. Auch die Hoffnung, dass die Reichen sich ihrer Verantwortung erinnern könnten, stirbt nicht ganz. Das letzte Wort soll Erich Kästner haben, mit einer jener vorweihnachtsgeistlichen „Nachdenkereien“, die er zwischen die Kapitel seines Buches gestreut hat: „Das Leben ist ernst und schwer. Und wenn die Menschen, denen es gut geht, den anderen, denen es schlecht geht, nicht aus freien Stücken helfen wollen, wird es noch mal ein schlimmes Ende nehmen.“

www.grips-theater.de, alle November- und Dezembertermine ausverkauft

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