zum Hauptinhalt

Hamburger Bahnhof zeigt Dieter Roth: Schöner pfuschen

Genialer Dilettant: Der Künstler Dieter Roth liebte schräge Töne. Der Hamburger Bahnhof in Berlin zeigt in einer Ausstellung, wie er mit den Wiener Aktionisten die Musik gegen den Strich bürstete.

Der Geigenkasten ist aufgeklappt, doch weit und breit kein Virtuose in Sicht. Und wenn, würde er das Instrument spielen können? Der Violine sind die Saiten zerrissen, Dieter Roth hat das Instrument zusammen mit Haushaltsmüll in den Kasten gestopft, mit Farbe begossen und zum Wandrelief gemacht. Dieses „Stumme Relief“ ist typisch für die Arbeit des 1998 verstorbenen Künstlers. Bei Roth spielt Musik hinein, viel und oft. Im Hamburger Bahnhof wird nun – erstmals in Deutschland – das Thema „Dieter Roth und die Musik“ verhandelt. Als Aktionskünstler und feinsinniger Arrangeur von Krempel, Schokolade, Wurstscheiben, Hasenmist oder Pflanzen liebte der Mann das Vergängliche. Auch Töne und musikalische Schallwellen kommen und verebben, Roths Faible fürs Akustische ist also nur konsequent.

Für die Ausstellung kooperierten die Berliner Staatlichen Museen mit Schweizer Musikhochschulen und dem Kunsthaus Zug, wo die Schau „Und weg mit den Minuten“ bis Anfang Januar zu sehen war. Warum die Minuten wegschmelzen wie Butter versteht man spätestens dann, wenn man in der Ausstellung auf die Musikkassettensammlung „Lorelei, die Langstreckensonate“ stößt. Knapp 40 Stunden lang klimpern Roth und Kollaborateure kakofonisch auf dem Klavier herum. „Wer sich das im Ernst komplett anhört, dem nimmt Roth Lebenszeit weg. Da sind wir beim Tod und bei der Kunst als Metapher des Todes,“ sagt Matthias Haldemann, Kurator am Kunsthaus Zug. „Bei Roth gibt es beides“, ergänzt Gabriele Knapstein, Kuratorin im Hamburger Bahnhof, „den existenziellen Ton und auch das Alberne, die Persiflage.“

Dieter Roth und die Lust am Mischmasch

Eigentlich konnte Roth – dessen Bösendorfer-Flügel mit grün lackierten Klaviersaiten in der Ausstellung steht – wohl ziemlich gut Klavier spielen. Er liebte Schubert, Brahms, Beethoven, besonders aber den Zwölftöner Schönberg. Als Jugendlicher wollte er Musiker oder Dichter werden, nicht etwa Maler oder Bildhauer. 1930 in Hannover geboren, verlebt er ab 1943 seine Jugendjahre in der Schweiz, lernt in der Zürcher Pension Bergheim viele emigrierte Theaterleute, Musiker und Künstler kennen. Wie ein Schwamm saugt der junge Mann die Einflüsse auf, die Lust am Mischmasch, am kulturellen Grenzverkehr, an der interdiziplinären Polyphonie begleitet ihn ein Leben lang.

Wo fängt die Musik an, wo hört das Geräusch auf? „Tibidabo 24 Stunden Hundegebell“ ist eine Arbeit von 1978, die aus Fotos und Zeichnungen, aber vor allem aus Geräuschen besteht: 24 Tonspuren mit Gekläffe und Gejaule aus einem Tierheim mutet Roth den Besuchern zu. Zwischen dem Dilettantismus, den er zelebrierte, und der tradierten Tonkunst zog Roth eine respektvolle Linie. „Das Wilde (bei Schönberg z.B.)“, schreibt er 1973 in sein Tagebuch, „kann nicht so wild sein weils komponiert ist für den Spieler der das disziplinieren muss (der das Instrument nicht beherrscht der kann der Wildeste sein).“

Die Ausstellung zeigt darüber hinaus Fluxus, Konzeptkunst und Postpunk

Am schönsten pfuscht es sich gemeinsam: 1966 reist Roth erstmals nach Wien, mit seinen Künstlerfreunden Oswald Wiener, Gerhard Rühm, Hermann Nitsch und Günter Brus veranstaltet er Dichterworkshops und Konzerte, ab den 1970er Jahren finden diese Veranstaltungen auch in Berlin statt. Mit seinen Kindern Karl, Björn und Vera realisiert er Werke wie „Fernquartett“ (1978) und „Nahquartett“ (1980–1982): Die separat von den Akteuren aufgenommenen, in bemalten Schränken aufbewahrten Audiokassetten können in der Ausstellung mittels Knopfdruck in beliebigen Kombinationen abgespielt werden. Klingt gewöhnungsbedürftig, vollkommen anti-klassisch, ist aber oft zum Schreien komisch. Roth gerierte sich als Don Quijote der Kammermusik.

Der Schweizer erweiterte und entgrenzte das Musikalische, er führte die tradierten Regeln ad absurdum. Damit steht er nicht allein, auch das zeigt die Ausstellung. Die Kuratoren haben Werke anderer Künstler aus dem Umfeld von Fluxus, Konzeptkunst oder Postpunk eingewoben. Ähnlich wie Roth mischt etwa die zwei Generationen jüngere Annika Kahrs mit ihrer Videoperformance „Strings“ die übliche Streichquartett-Anordnung auf. Vier Profimusiker spielen bei ihr Beethoven, da sie jedoch nach jedem Satz ihr Instrument mit dem Sitznachbarn tauschen müssen, wird es automatisch dilettantisch und disharmonisch.

Der Fokus liegt auf Roths Verwendung von Sprache und Literatur

Werke mit Musik von Künstlern wie Rodney Graham, Ragnar Kjartansson, Bruce Nauman oder Markus Sixay sind mehr oder weniger sinnvoll in den Parcours eingefügt. Dass die Schau ausgefranst wirkt, hängt nicht zuletzt mit dem Ausstellungsort zusammen: Gerade Roths kleinere Werke wirken in der endlosen Raumfolge der Rieck-Hallen verloren. Die dort installierte „Gartenskulptur“, ein Hauptwerk Roths, das sich als Schenkung der Friedrich Christian Flick Collection in der Sammlung der Nationalgalerie befindet, macht es augenfällig: Wo der Künstler große Werkkomplexe und wuchernde Zusammenhänge nicht selbst hergestellt hat, wird es zum gewagten Unterfangen, disparate Objekte zu gruppieren und thematisch in den Griff zu kriegen. Roth im Museum, derart ordentlich zusammengestellt, das hat auch etwas Trauriges. Zum Vergleich: In der Ausstellung „Dieter Roth. Balle Balle Knalle“, die derzeit im Kunstmuseum Stuttgart zu sehen ist, liegt der Fokus auf Roths Verwendung von Sprache und Literatur. Mit ausgewählten Exponaten und auf beschränktem Raum gelang dort die stimmigere Inszenierung.

Womöglich kann Roth in den Rieck-Hallen mit Aktionen und Extraprogrammen reanimiert werden. Der Plan für die zweite Aprilhälfte verspricht Leben in der Bude. Die komplexen Installationen „Bar 1“ und „Bar 2“ sind ja, obwohl es zunächst den Anschein hat, nicht als Exponate fürs Museum gedacht, sondern als Treffpunkte konzipiert. Ab 19. April laufen in den beiden „Bar“-Installationen von Roth diverse Themenführungen sowie Musiksessions und ein Performance-Programm. Der Verein „Freunde guter Musik Berlin“ veranstaltet vor Ort die Lecture „Minutenkiller“, es wird „Musik für Dieter Roth“ gespielt und ein Podiumsgespräch veranstaltet. Roth sehen und hören: Wenn wir uns schon von ihm die Zeit stehlen lassen, dann richtig.

Hamburger Bahnhof, bis 16. August, Di/Mi/Fr 10-18, Do 10-20, Sa/So 11-18 Uhr

Jens Hinrichsen

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false