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Hanseatische Bürgerlichkeit. Villen in Hamburg-Blankenese.

© Shutterstock / Ralf Gosch

Hamburger Kulturgeschichte: Phönix aus der Asche

Der Literaturwissenschaftler Jan Bürger erzählt, wie die moderne Handelsmetropole entstand

Die in die Nordsee mündende Elbe machte die reiche Hansestadt Hamburg schon früh zum globalen Knotenpunkt. „Während andere Metropolen durch ihre politische Funktion Bedeutung gewannen“, schreibt Jan Bürger, „durch Höfe oder Regierungssitze, wuchs die Stadt an der Elbe allein durch den Handel.“ Er hätte die kaufmännische Mentalität des Patriziertums nachzeichnen können, aber Bürger, ein in Hamburg aufgewachsener Schriftsteller und Literaturwissenschaftler, geht andere Wege.

Ihn interessiert das moderne Hamburg, und jedes Kapitel beginnt an „einer Haltestelle der S­ und U­Bahnen. Geschichte wird nicht chronologisch erzählt, sondern im Raster der Topografie und stets von unserer Gegenwart her.“

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Hamburgs Moderne setzt um die Mitte des 19. Jahrhunderts ein, und zwei große Brände strukturieren sie: 1842 zerstört ein Feuer die Stadt, und ein Jahrhundert später, 1943, lösen die Luftangriffe der Royal Air Force einen Flächenbrand aus, dem nicht nur Hamburgs Häuser, sondern auch ungezählte Menschen zum Opfer fallen.

Lichtpunkte eines kollektiven Gedächtnisses

Das könnte auch pessimistisch erzählt werden, aber Bürger tut es nicht. Kulturgeschichte folgt eigenen Gesetzen: Weder ihre Protagonisten noch ihre Leistungen unterwerfen sich einem historischen Determinismus, und auch im Schatten der Realität bilden sie Lichtpunkte eines kollektiven Gedächtnisses.

Bürger beginnt am Hafen, erinnert an die Slums der Arbeiter und ihre erstickende Enge um 1830. „Es mutet fast grotesk an“, schreibt er, aber der „Aufstieg zum modernen Handelszentrum und zur echten Großstadt“ wurde erst durch eine Katastrophe möglich: 1842 zerstört das Feuer große Teile der Innenstadt und setzt Entwicklungen in Gang, von denen das Buch erzählt.

[Jan Bürger: Zwischen Himmel und Elbe. Eine Hamburger Kulturgeschichte. Verlag C. H. Beck, München 2020. 384 Seiten, 24 €.]

Die Wohngebiete weiten sich aus, 1860 wird die Torsperre aufgehoben, schon vor dem Ersten Weltkrieg fährt die Hochbahn, fast gleichzeitig entsteht der erste Elbtunnel und wird mit dem Bahnnetz verbunden. Dynamisch wie das Weichbild der Stadt ist auch Bürgers Kulturgeschichte: Sie eröffnet dem Leser nicht nur den Raum, in dem sie abläuft, sondern auch ihre Tiefenstrukturen, und ein Beispiel sind die beiden Brände.

Der Bankier Salomon Heine war einer der reichsten Bürger der Stadt. Als sie abgebrannt war, spendete er große Summen und ermöglichte einen schnellen Wiederaufbau. Offiziell, schreibt Bürger, dankte man ihm dafür nie, inoffiziell aber waren ihm „weite Kreise der Bevölkerung verbunden, Tausende folgten Salomon Heines Sarg“, als er 1844 starb.

Erinnerungen an ein uneingelöstes Potential

Der Bankier kam im Vormärz zu Reichtum, sein berühmterer Neffe aber erlebte die Zeit als tiefe Enttäuschung. Heinrich Heine ging ins Pariser Exil, und im Todesjahr seines Onkels erschien „Deutschland. Ein Wintermärchen“, eine traurige Satire, in der die Hamburger schlecht wegkommen.

Heute ist der Onkel nur noch eine Randfigur in der Biografie seines Neffen, doch Jan Bürger bricht das eingeschliffene Muster auf und zeigt, was Kulturgeschichte leistet: Sie beschönigt nichts, hält aber die Erinnerung an ein uneingelöstes Potential wach. Zeigt sich in Heines Werk die Tragödie des deutschen Judentums, so leuchten im Leben seines Onkels für einen seltenen Augenblick andere Möglichkeiten auf.

In seinen Zürcher Poetikvorlesungen „Luftkrieg und Literatur“ behauptete W. G. Sebald 1999, die deutschen Schriftsteller seien angesichts der alliierten Vergeltungsschläge gegen das Dritte Reich verstummt. Grund dafür sei ihr Schuldgefühl, ihr Wissen um die Leichen im eigenen Keller. Als Ausnahme lässt er nur den Hamburger Schriftsteller Hans Erich Nossack gelten, der versucht habe, sich dem Schrecken der „Operation Gomorrha“ zu stellen.

Der 2001 in seiner Wahlheimat England bei einem Autounfall ums Leben gekommene Sebald war ein radikaler Kulturpessimist, der sich aus dem Schatten von Auschwitz weder befreien kann noch will, und die Kulturgeschichte bietet hier einen Vergleich. „Operation Gomorrha“ war der Codename der englischen Luftangriffe, die im Sommer 1943 Hamburg in Schutt und Asche legten, und auch Bürger spricht vom Schrecken jener Tage.

Wie Sebald zitiert er aus Nossacks Text „Der Untergang“ (1948) und verheimlicht nicht, dass das damals keiner las, weil man lieber wegschaute, aber er belässt es nicht dabei. Nossacks Name taucht bei ihm an vielen Stellen auf, ist Teil einer weitverzweigten literarischen Szene, zu der Hans Henny Jahnn und viele andere Schriftsteller gehören.

Jüdische Traditionen

Unter ihnen ist auch Wolfgang Borchert, der die Premiere seines Heimkehrerstückes „Draußen vor der Tür“ nicht mehr erlebte, weil er am Vorabend mit nur 26 Jahren starb. Bürger erzählt von den Kammerspielen, wo das Stück im November 1947 uraufgeführt wurde, und von der Intendantin Ida Ehre. Sie war Jüdin, überlebte den Krieg in „privilegierter Mischehe“ und leitete die Kammerspiele später noch viele Jahrzehnte.

Er erzählt von der fragwürdigen Karriere, die Gustaf Gründgens auf den Hamburger Bühnen machte; von den jüdischen Professoren, die der jungen Hamburger Universität im frühen 20. Jahrhundert zu Weltruhm verhalfen; schreibt eine kleine Musikgeschichte Hamburgs, in der die 2016 fertiggestellte Elbphilharmonie ebenso ihren Platz hat wie die legendären Anfänge der Beatles im St. Pauli der 1960er Jahre. Und Bürger erzählt von der Solidarität der Hamburger Presse, die im Zuge der Spiegelaffäre einen Verteidigungsminister in die Grenzen der Legalität zurückzwang.

Auch von Hamburgs Künstlern erzählt er. Eine von ihnen hieß Anita Rée, eine getaufte, in der Weimarer Republik sehr angesehene Jüdin, deren Bilder nach der Machtübergabe nicht mehr ausgestellt werden durften. Im Dezember 1933 beging Anita Rée Selbstmord.

Und Jan Bürger erzählt die schöne Geschichte von Wilhelm Werner. Er war der Hausmeister der Kunsthalle und versteckte sieben Gemälde von Anita Rée in seiner Hausmeisterwohnung, ohne darüber ein Wort zu verlieren. Nur seiner Frau erzählte er es, deshalb wissen wir heute, wem wir die Rettung der Werke zu verdanken haben. Der Reichtum dieser Kulturgeschichte kann hier nur angedeutet werden. Aber wer Hamburg besucht, der sollte sie sich als Reiseführer in den Koffer stecken.

Jakob Hessing

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