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Komischer Vogel, aber faszinierender Autor. Der Dichterkünstler Schuldt.

© Leonore Mau

„Hamburgische Schule des Lebens und der Arbeit“: Dichterkünstler Schuldt hat eines der schönsten Bücher des Jahres geschrieben

Schuldt ist ein Phänomen. In „Hamburgische Schule des Lebens und der Arbeit“ erzählt er die Geschichte hinter Worten. Und vom Verschwinden einer Gegend.

Der Mann heißt Schuldt. Seinen Vornamen hat er, vor Jahrzehnten schon, verschwinden lassen. Er stammt aus Hamburg, lebte in der halben Welt, London, Paris, Wien, New York, auch Peking. Von Togo, Japan, China berichten seine Bücher. Er ist ein komischer Vogel, vor allem aber ein Phänomen. Er war einmal das, was man Geheimtipp nannte. Seine Spezialität: Akronyme.

Wir haben ihn, vor fast 40 Jahren, zusammen mit dem damaligen S.-Fischer-Lektor Thomas Beckermann im Süden von Manhattan besucht. Er wohnte in einem alten Fabrikgebäude, in einem einzigen, allerdings ziemlich geräumigen Raum. Küche, Schlafzimmer, Gästezimmer, Arbeitsbereiche waren auf den gut und gerne 400 Quadratmetern Wohnfläche so untergebracht, dass unsere damals kleinen Kinder genügend Auslauf fanden und regelrechte Verfolgungsjagden starteten. Ein Spinner, sagten unsere Kinder und meinten es bewundernd. Er war umtriebig und in der New Yorker Künstlerszene fest integriert.

Er hätte den Nobelpreis verdient

Denn der komische Vogel ist Künstler. Auch ein Vortragskünstler, trotz leicht näselnder Stimme und eines leichten, aber kaum überhörbaren Hamburger Akzents. Ist er zu Lesungen eingeladen, dann liest er nicht nur. Er hält kleine Vorträge, belehrt und überrascht sein Publikum. Er redet schnell, oft atemlos. Er präsentiert sich als Gesamtkunstwerk. Und er zieht die Zuhörer immer in seinen Bann. Und immer hat er stapelweise seine Bücher dabei. Meist übersteigt die Anzahl der Exemplare die Zahl seiner Zuhörer. Aber fast immer kaufen die Leute fast alles, was er dabeihat.

Seine Texte, man darf sie „experimentell“ nennen, entsprechen keineswegs den Erwartungen eines normalen Publikums, auch wenn ihr Schwierigkeitsgrad ebenso variiert wie das Vergnügen, das sie erzeugen. Für sein schönstes, originellstes und aberwitzigstes Buch, das schmale „In Togo, dunkel“, hätte er, wenn schon nicht den Nobelpreis, mindestens den Büchner-Preis verdient.

Seine Lieblingslektüre waren offenbar Wörterbücher

Sein neues Buch, von der Ausstattung her bei Weitem sein schönstes, die „Hamburgische Schule des Lebens und der Arbeit“, nennt er im Untertitel, fast schon nostalgisch, obwohl Schuldt zu keinen Sentimentalitäten neigt, „Die vergehende Wahrheit“. Der Hamburger Hafen, da kommt Schuldt her, und das ist eine Weile her. Am vergangenen Freitag, so besagen es die Quellen, beging er seinen 78. Geburtstag.

Sein Vater war, soweit sich das erschließen lässt, Reeder. Der Sohn, wie es der Vater vermutlich gesehen hat, eine Art (Früh-)Aussteiger. Kein Dandy, sondern Radfahrer. Mit seinem teuren Rennrad, das er wie seinen Augapfel hütet und von dem er ständig spricht und schreibt, ist er unterwegs.

Von Schule, gar Studium ist nichts bekannt. Richtig gearbeitet, das hat er schon, auf Baustellen oder als Tontechniker. Er ist praktisch veranlagt. Sprachkenntnisse sind verbürgt, auch durch seine Übersetzungen. Seine Lieblingslektüre, das waren offenbar Wörterbücher. Woran sich zeigt, dass sein Zugriff auf die Welt ebenso systematisch wie chaotisch geblieben ist. Der Hafen, die Kneipen, die Schiffe, davon wird hier nun erzählt.

Er ordnet seine Geschichte alphabetisch

Zum Hamburger Hafen ist er immer wieder zurückgekehrt. Da kennt er sich aus. Da hat er lange gelebt. Und jetzt leben der Hafen, die Docks, die Kräne, die Lagerhäuser und Hallen, die Schiffe und die Menschen, die mit den Schiffen kamen, die im Hafen arbeiteten, in den Kneipen tranken, sangen, die sich prügelten und sich versöhnten, in seinen Erzählungen weiter. Aber Schuldt wäre nicht Schuldt, würde er einfach Geschichten erzählen, gar chronologisch. Er ordnet, was er zu erzählen hat, nach alter Gewohnheit alphabetisch.

Das geht von „Achtern Diek“ und „Allens gewaarschuwd“ über die „Duckdalben“ und die „Waterkant“ bis hin „Zum Festmachertreff“. Schuldt liefert die Erklärung dieser Begriffe. Er erzählt die Geschichten, die sozusagen an ihnen angedockt haben. Dazu, wenn vorhanden, seine persönlichen Erinnerungen. Er berichtet also vom Verschwinden einer Gegend, die ihm tatsächlich die „Schule des Lebens“ war.

Wer es erträgt, dass ganze 20 Druckseiten des Buches von einer Liste der Straßen und Plätze und exakt zehn Seiten von einer Namensliste ihrer Anwohner gefüllt sind, wer also solche Marotten des Autors akzeptiert, der wird im Weiteren entschädigt durch eines der schönsten Bücher dieses Frühjahrs.

Etwas Verschwundenes und weiterhin Verschwindendes wird von Schuldt mit einer Methode noch einmal gebannt, die ebenfalls aus jener Vergangenheit kommt, in der wir hier die „vergehende Wahrheit“ der Welt von gestern erkennen können.

Martin Lüdke

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