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Kultur: "Hamlet" und "Haarmann": Die Entblößten

Fritz Haarmann, der Schlachter, steht nackt in seinem Zimmer. Sein Mund ist durch die Anspannung verzerrt, sein Kopf leicht zur Seite geneigt.

Fritz Haarmann, der Schlachter, steht nackt in seinem Zimmer. Sein Mund ist durch die Anspannung verzerrt, sein Kopf leicht zur Seite geneigt. Gleich wird er über einen Jungen herfallen, den er am Bahnhof aufgegabelt hat, und ihm im Lustrausch die Kehle durchbeißen - einfach so. Er wird den Leichnam ausweiden und in Stücke zerhacken. Und die Teile danach in die Leine werfen. "Der Mensch ist nicht viel", wird Haarmann seinem fassungslosen Richter erklären: "Ein paar Eimer voll."

Glücklicherweise erspart uns Michael Talke, der Marius von Mayenburgs "Haarmann"-Stück in Hannover zur Uraufführung gebracht hat, den Anblick des Toten und die makabere Zerlegungsprozedur. Lediglich die Hiebe des Beils sind aus dem Zimmer zu vernehmen, bevor der stämmige Mann mit seinem blutverschmierten Eimer über die Bühne eilt. Ein anständiger Bürger, ein "Kriminal" sogar, wie die Leute aus seiner Nachbarschaft sagen, also einer, der für die Polizei arbeitet. Dem kann man nichts und dem will man auch nichts anhaben. Mayenburg interessiert nicht die perverse Grausamkeit dieses Massenmörders, der das Fleisch seiner Opfer an ahnungslose Nachbarn verkauft haben soll. Der junge Hausautor der Berliner Schaubühne beschreibt Haarmann als einen Getriebenen, dessen Morde über Jahre unentdeckt bleiben, weil alle in Zeiten der Armut von diesem Mann profitieren.

Auch in Shakespeares "Hamlet", der eine Woche zuvor in Hannover Premiere hatte, gibt es lediglich den vagen Verdacht, dass ein Mord geschehen ist. Hamlet glaubt das, aber er ist der Einzige. In aller Verzweiflung reißt sich Philipp Hochmair die Kleider vom Leib und sprintet als nackter Derwisch über die Bühne - ein gekränktes Scheidungskind, das sich mit der neuen Situation nicht abfinden will. Da alle Beschwichtigungsversuche der toleranten Eltern nicht anschlagen, sondern lediglich dazu führen, dass sich Hamlet wie an die Wand gestellt fühlt, betreten auch sie entblößt die Bühne. Ein Akt verständnisvoller Solidarität, der nicht von ungefähr Nacktfotos alter Kommunarden zitiert.

Es ist dies eine Schlüsselszene des grandiosen, von Nicolas Stemann inszenierten "Hamlet" und eine Art Gegenbild zur brutalen, schmerzverzerrten Körperlichkeit des "Haarmann"-Stücks. Denn Hamlet richtet seinen Argwohn gegen eine Wohlfühlwelt, die seine hohen moralischen Ansprüche wie eine Gummimembran zurückschleudert. Und so ist die eigentliche Überraschung dieses Abends, dass Claudius, der Saxophon spielende Königsmörder, der auch noch seines Bruders Witwe zur Frau nimmt, ein Sympathieträger ist. Matthias Neukirch lässt ihn in Nadelstreifen wie einen Manager aussehen, einen warmherzigen Modernisierer, der die Rüstungspolitik seines halsstarrigen Bruders überwindet, mit den Feinden Frieden schließt und die Königin mit sanften Worten glücklicher macht. Seinem zerstörerischen Stiefsohn hält er vor: "Du liebst die Menschen nicht, sondern deine Prinzipien." Und jeder weiß, dass er recht hat. Aber weil Hamlets Verdacht wahr ist, kann er nicht eher Ruhe geben, bis seine Geliebte, deren Vater und Bruder, seine Mutter und schließlich Claudius selbst getötet sind.

Mit großartigem Gespür für Timing und dramaturgische Spannungsbögen hat Stemann Hamlet für die Gegenwart gerettet. Indem er die Familientragödie mit der post-autoritären Kultur einer Mediendemokratie verknüpft, in der die Menschen nur Schauspieler ihres Schicksals sind, bekommt Hamlets überspannter Entlarvungsgestus fast etwas Heiliges. Er will sich nicht vereinnahmen lassen von einer Welt der Kompromisse und weichen Umarmungen. Er ist das erschreckend aktuelle Symbol einer Revolte, der die Worte fehlen, so dass sie blindwütige Gewalt anwendet. Man wünscht dem neuen Intendanten Wilfried Schulz, der unter Frank Baumbauer zu den Architekten des Hamburger Theatererfolges zählte, weiterhin eine so glückliche Hand. Unter seiner Ägide scheint in Hannover erneut ein abwechslungsreicher Talentschuppen sesshaft zu werden - nicht zu radikal, um das kultiviert-bürgerliche Publikum der Stadt zu verschrecken, aber auch nicht zu bieder, um es zu langweilen. So bewies Schulz durchaus Mut, als er Mayenburg Gelegenheit gab, sein "Haarmann"-Projekt wieder aufzugreifen. Der Dramatiker hatte den schon weitgediehenen Stoff fallen gelassen, nachdem Romuald Karmakars "Totmacher" herausgekommen war.

In Hannover ist die Erinnerung an den prominenten Serienmörder nämlich bis heute sehr zwiespältig. Jedes Kind kennt den Schreckensreim, "Warte, warte nur ein Weilchen, dann kommt Haarmann auch zu dir, mit dem Hacke-, Hackebeilchen und macht Dosenfleisch aus dir." Doch auch mit solchen Versen wird der Dämon letztlich nur verdrängt. Haarmann selbst träumte bei seiner Vernehmung davon, dass man ihm, nachdem er mit 25 nachgewiesenen Morden einen Rekord gebrochen hatte, einmal in seiner Heimatstadt ein Denkmal setzen würde. Das geschah nicht; vielmehr wurde eines für die Opfer errichtet. Das ist nicht unbedingt selbstverständlich: Ein Verbrecher wie "Jack the Ripper", der 1888 in London sechs Prostituierte umgebracht hat, wird längst als Kultfigur gehandelt. Davon kann bei Haarmann keine Rede sein. Es ist, als müsste noch heute die Nachlässigkeit verschwiegen werden, mit der die Polizei zwischen 1919 und 1924 Hinweisen auf das Verschwinden junger Männer nachgegangen war. Theodor Lessings Bemerkung anlässlich des Haarman-Prozesses, "Wir richten über die Schlange und schließen die Augen vor dem Sumpf, der die Schlange geboren hat," machte ihn zum Feind des bürgerlichen Establishments. Seine Forderung, die schon früher festgestellte Geisteskrankheit des Triebtäters zu berücksichtigen, verhallte ungehört. Man wollte diese Schlange wieder loswerden.

Wenn man Wilhelm Schlotterer über die laufstegartige Querbühne im Ballhof rennen sieht, versteht man, warum. Er spielt den von maßlosen inneren Ängsten gepeinigten Schlachter mit atemberaubender Konsequenz. Wie ein Kind winselt er, trunken vor Selbstmitleid, um im nächsten Moment zur kaltherzigen Bestie zu werden. Die finsteren seelischen Abründe dieses ruppig-zärtlichen Homosexuellen, die selbst tausende von Aktenseiten nicht zu erhellen vermochten, werden in Schlotterer lebendig. Man begreift, dass er seinem Geliebten Hans Grans, dem er die Kleider der Toten überließ und am Ende von dessen "Leichtsinnigkeit" um ein Vermögen gebracht wurde, verfallen musste. Man begreift auch, dass nur der erste Mord Überwindung gekostet hat. Danach war es - fast - eine Sache des Prinzips.

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