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Hanne Darboven im Hamburger Bahnhof: Welträume, Urformeln

Mehr als eine arbeitswütige Eremitin: Der Hamburger Bahnhof zeigt erstmals Hanne Darbovens Korrespondenz mit ihren künstlerischen Seelenverwandten.

Eine Frau erschafft sich eine Welt. Einen eigenen Kosmos, basierend auf dem verlässlichsten, rationalsten Element: der Zahl. Und das lange bevor die Digitalisierung jede Information in die Befehle 1 und 0 transformiert. So einfach das klingt, so komplex ist die Kunst von Hanne Darboven.

Die dichte Ausstellung „Korrespondenzen“ im Hamburger Bahnhof fächert klar die räumlichen Dimensionen ihres Werkes auf, sodass sie sinnlich erfahrbar werden. Ausgangspunkt ist eine Schenkung des Hamburger Sammlerpaares Susanne und Michael Liebelt. Die Eltern von Susanne Liebelt stellten in ihrer Druckerei das karierte Papier her, das Hanne Darboven für ihre Berechnungen und Notate verwendete. Daraus entstand die Freundschaft zur Künstlerin. Als die Sammler erfuhren, dass der Hamburger Bahnhof nach einer großen Arbeit von Hanne Darboven suchte, schenkten sie dem Berliner Museum für Gegenwartskunst insgesamt 15 Werke aus ihrer Sammlung.

Das Museum teilt nun das Glück dieser Schenkung mit dem Publikum. Nach der zweiteiligen monografischen Ausstellung im Münchner Haus der Kunst und der Bundeskunsthalle in Bonn bettet die Berliner Schau Hanne Darboven nun in den Kreis ihrer Freunde ein, in die Minimal Art und Konzeptkunst der 70er Jahre. Besucher erleben die Künstlerin nun nicht mehr als arbeitswütige Eremitin, sondern im gedanklichen Austausch mit Kollegen und Liebhabern. Denn zum ersten Mal wird auch die Korrespondenz der Künstlerin ausgestellt.

Flirt mit Sol LeWitt

Noch zu Lebzeiten wählte Hanne Darboven über tausend Briefe zur Veröffentlichung aus. Sie wurden im letzten Jahr von Petra Lange-Berndt und Dietmar Rübel herausgegeben, die Liebelt-Stiftung finanzierte die Veröffentlichung. Der dicke Aktenschuber liegt nun in einer Nische auf der gläsernen Brücke der historischen Halle zur Lektüre aus. In den Ausstellungsräumen ergänzen die privaten Original-Handschriften das künstlerische Werk, das um Schreiben und Rechnen kreist, um Sprache und Klang.

Zwei dynamische Großformate aus der New Yorker Zeit bilden den Auftakt: „Konstruktion“ von 1966/67. Nach ihrem Studium an der Hamburger Kunstakademie zog Hanne Darboven nach New York und begann, erste Eckdaten in architektonische Zeichnungen zu übersetzen. In den geschrägten Fassadenstrukturen glaubt man die Energie der amerikanischen Metropole zu erkennen. Ein Foto zeigt fragile Papiermodelle, erste Versuche, die Zahlen in Raum zu übertragen.

In New York erregt die schöne junge Frau Aufsehen. Die Briefe verraten, wie sorgfältig sie bereits zu Beginn ihrer Karriere ihr Image formt. „Das Kleid, ach jeder findet es bezaubernd“, schreibt sie an die Mutter, „so auch ich, und dazu Hut – Mantel – Stiefel.“ Sie flirtet mit Sol LeWitt, dem Meister der Konzeptkunst, lernt ihren Lebensfreund Isi Fiszman kennen und verliebt sich in Carl Andre. Überschwängliche Briefe drücken später ihre Sehnsucht aus. Unter der gezeichneten Hand steht der langgezogene Seufzer: „hannedesirelovetouchesCarl“. Carl Andre antwortet lakonisch mit einem Zeitstreifen: „Monday, Tuesday, Wednesday: Hanne“.

Ein luftiger Würfel von Sol LeWitt hängt nun in der einen Ecke, eine stille Bodenplastik aus Quadraten von Carl Andre liegt in der anderen. Am schönsten korrespondiert die Treibholz-Komposition von Richard Long mit den Wellenmustern von Darbovens Schrift.

Als ihr Vater stirbt, kehrt Hanne Darboven 1969 nach Hamburg zurück, zieht auf das Grundstück ihrer Eltern am Burgberg in Hamburg-Harburg und baut sich ihren Wohnturm. Im alten Bauernhaus daneben wohnt weiterhin ihre Mutter. Von da an übersetzt die Künstlerin ihre Zahlen nicht mehr in Zeichnungen, sondern schreibt sie direkt aufs Blatt. Ihre Urformel ist der K-Wert, die Quersumme des Kalenderdatums. Auf diese Weise kann sie ein ganzes Jahr auf einem Blatt abbilden, ein ganzes Jahrhundert in einem Raum.

Mädchenhafter Duktus

Zur Schenkung gehört auch einer dieser Zeit-Räume: „Menschen und Landschaften“ von 1985. Die objektiven Daten werden ergänzt von Wunschvorstellungen, Postkartenmotiven. Hanne Darboven, 1941, also im Zweiten Weltkrieg geboren, positioniert sich im Zentrum des 20. Jahrhunderts. Als aufmerksame Beobachterin unterfüttert sie ihre Berechnungen mit Zeitungsartikeln oder „Spiegel“-Titeln. Aber sie beharrt auf ihrem eigenen Reich. „Ubiquist“ steht als Absender auf der selbst entworfenen Postkarte. Ihre geistige Heimat ist das Überall. Am Tag der Mondlandung lädt sie zu einer 14-stündigen Weltraumparty.

Schließlich kommt zu den epischen Schreibarbeiten, die sich in die Zeit und den Raum ausdehnen, noch die Musik hinzu. Auf einmal passt alles logisch zusammen. Die ausgebildete Musikerin Hanne Darboven übersetzt ihre Quersummen in eigens entworfene Noten. Diese überträgt der Komponist Friedrich Stoppa in eine Partitur. Im Hamburger Bahnhof ist Opus 43 für drei Bläser zu sehen und zu hören. Da erscheint vor dem inneren Auge die Musik als hörbare Architektur.

Umgekehrt übersetzt die Ausstellung die Schrift von Hanne Darboven in Melodie. Vor allem in den Briefen an die „allerliebste Mutter“ schreibt die Künstlerin wie in Sprechgesängen mit langen Wortreihen und Refrains. Der Duktus wirkt mädchenhaft zart, anders als die vom Kettenrauchen raue Sprechstimme. „Korrespondenzen“ wechselt die Perspektive. Hanne Darboven wird nicht mehr an den Rand geschoben als Außenseiterin und Einzelgängerin, als stumme Schreibkünstlerin. Sie tritt raumgreifend auf als zentrale Figur in der internationalen Kunst des 20. Jahrhunderts, als universeller Geist, der in alle Richtungen schweift.

Hamburger Bahnhof, Invalidenstr. 50–51, bis 27. 8.; Di bis Fr 10–18 Uhr, Do bis 20 Uhr, Sa / So 11–18 Uhr

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