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Kultur: Hans Mayers ganz persönliche Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts

Wenn einen beim Lesen von Autobiografien der Neid befällt, spricht das durchaus für den Autor. Dann nämlich ist es ihm gelungen, die Namedropping-Hürde erfolgreich zu überspringen.

Wenn einen beim Lesen von Autobiografien der Neid befällt, spricht das durchaus für den Autor. Dann nämlich ist es ihm gelungen, die Namedropping-Hürde erfolgreich zu überspringen. Hans Mayer hat sie alle getroffen, aber er protzt nicht mit seinen Bekanntschaften, sondern er schwärmt von ihnen - so, dass dem Leser unwillkürlich ein "Da wär ich gern dabeigewesen" entfährt. Wie er zum Verehrer Otto Klemperers wurde, wie er Bruno Walter entdeckte und Lotte Lehmann, was er bei der ersten Begegnung mit dem Cellisten Emanuel Feuermann empfand, erzählt der melomane Literaturwissenschaftler in einem Tonfall, dem man sich kaum entziehen kann.

Hätte das großbürgerliche Elternhaus ihn nicht zur Juristenkarriere ausersehen, der 1907 geborene Kölner wäre womöglich selber Musiker geworden. Als kleiner Junge zeigte er sich überdurchschnittlich begabt - wenngleich er keineswegs ein Wunderkind gewesen sei, wie sich Mayer zu betonen beeilt. Das war vielleicht auch besser so, denn auf diese Weise hat die deutsche Musikschriftstellerei einen ihrer klügsten Köpfe gewonnen. Auch wenn sich Mayer letztlich für die Literaturwissenschaft entschied, blieb er dem "Spiel tönend bewegter Formen" eng verbunden. Als Autor erhellender, niemals wissenschaftlich zugeschwollener Erklärprosa wie auch als Zuhörer.

Vor allem davon handeln die musikalischen Lebenserinnerungen des inzwischen 92-Jährigen. Von seinen ersten Konzert-Erfahrungen in Köln über die Studienjahre (in Berlin wohnte er 1927 als Untermieter in einer Wohnung mit dem Komponisten Berthold Goldschmidt), das Exil in Paris und Genf bis ins Frankfurt und Leipzig der Nachkriegszeit fesselt Mayer durch seine Begeisterung und die weisen Anmerkungen zu manchem theoretischen Problem. Hinzu kommt der überaus charmante Erzählstil und die Souveränität, mit der er Szenen ins Selbstironische umbiegt, wenn er sich bei einem pathetischen Aufschwung erwischt.

Dass sich der passionierte Zuhörer Mayer nicht nur als Nachdenker über Vergangenes, sondern immer auch als Vordenker der Avantgarde verstand, machen zwei lange Exkurse deutlich: In den "Bemerkungen zu einer kritischen Musiktheorie" von 1938 und dem Darmstädter Vortrag "Kulturkrise und Neue Musik" von 1948 greift er Theodor W. Adornos Überlegungen zur Musiksoziologie auf und an - und macht damit den Leser noch einmal neidisch: So spannende, brillant bissig geführte Debatten gab es in Zeiten, als Neue Musik den meisten Musikern noch nicht egal und die Klassik-Unterhaltungsindustrie kein toleriertes Übel war.

Ebenfalls mit einem theoretischen Kapitel läßt Mayer seinen Blick auf sein Musikleben schließen - leider schon nach der Begegnung mit dem jungen Fischer-Dieskau. Hätte ein Lektor gewagt, manche Doppelungen zu streichen und dem Autor bei verzeihlichen Erinnerungslücken auf die Sprünge zu helfen, Mayers Liebeserklärung an "diese merkwürdige Zwitterkunst aus Exaktheit und Ekstase" wäre eine vollendete Komposition geworden.Hans Mayer: Gelebte Musik. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 1999. 238 Seiten, 39,80 DM.

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