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Kultur: Harfen im Niemandsland

Mit Joanna Newsoms zweitem Album „Ys“ wird Popmusik allegorisch

Harfen im Pop? Es ist lange her, dass das jemand versucht hat. Mit Grausen erinnert man sich des esoterischen Gezirpes von Andreas Vollenweider. „Ys“, das wahnwitzige Album der Folksängerin Joanna Newsoms ist ganz anders, es holt die Harfe in den an skurrilen Instrumenten nicht eben armen Popkosmos zurück. Ein kühnes Unterfangen. Und als wäre das noch nicht genug, kiekst die Kalifornierin überspannt, manövriert durch waghalsige Gesangsmelodien und strapaziert ihre Stimme bis sie klingt wie eine achtjährige Billy Holiday mit Halsschmerzen. Ein plötzlicher Tempowechsel, das Orchester hält inne. „Die Städte, die wir passierten, waren ein flackerndes Niemandsland“ singt Joanna Newsom in die klaffende Lücke. Dann zieht das Tempo an. Das Orchester hebt zu feierlichen Glissandi an und man meint wirklich in dem Traumgefährt zu sitzen, dass an den Lichtpunkten einer Skyline vorbeizieht. Der Musik entsteigt ein hymnischer Refrain.

„Ys“, Joanna Newsoms zweites Album und das erste, mit dem sie in Europa Gehör findet, ist eine atemberaubend poetische und widerspenstige Platte, die eigentlich völlig aus der Zeit fällt. Kaum ein Stück bleibt unter zehn Minuten und das klassische Songschema dehnt Joanna Newsom wie ein Gummiband. Statt ihre Lieder als Metaphernraum zu fassen, zielt die Legende von der versunkenen Stadt „Ys“ (Iiis) auf den Zauber des Allegorischen. Leichte Kost ist das nicht. Doch die 24-Jährige wird als Entdeckung gefeiert.

Große Namen haben an dieser Platte mitgewirkt. Das sorgt für Rückenwind. Der legendäre Songwriter Van Dyke Parks beispielsweise schrieb die episch driftenden Streicherarrangements, und Mikrofonvirtuose Steve Albini sorgte für das gestochen scharfe Klangbild von Harfe und Gesang. Doch das allein reicht nicht, um Newsoms Erfolg zu erklären. Da ist mehr. Diese Platte trifft einen Nerv. Wie fast jedes gute Popalbum steht „Ys“ für ein grundsätzliches Unbehagen dem eigenen Genre gegenüber. „Ys“ ist eine kraftvolle Absage an die eng geschnürten Regeln des Popzirkus. Ein lautes „Ohne mich“ in Richtung der sauber zurechtgestutzten Drei-Minuten-Songs, der quengelnden Retortenstimmen des Formatradios und der aseptischen digitalen Produktionstechnik – für die Gesangsaufnahmen bestand Joanna Newsom darauf, mit einer analogen Bandmaschine zu arbeiten und auf digitale Effekte zu verzichten. Intimität, Nähe und Unmittelbarkeit ihrer Stimme sollten erhalten bleiben.

Das folgt dem ungeschriebenen Kodex des New Folk, als dessen prominenteste Vertreterin Joanna Newsom gilt. Vor allem die psychedelischen Folk Bands aus dem England der sechziger Jahre – wie The Incredible String Band oder Fotheringay – haben auf „Ys“ deutliche Spuren hinterlassen. Auch die provozierten den musikalischen Status quo mit exotischen Instrumenten und wabernden Klangexperimenten. Und mit jedem Surren rückte das Ende des puristischen Protestsongs näher. Der Preis, den die Folk-Musik für diese Erneuerung zahlen musste, war der Verlust einer klaren politischen Stimme, doch öffnete sich diese Musik alter Männer nachfolgenden Generationen. Wie Devendra Banhart und Cocorosie steht Newsom für die psychedelische introvertierte Variante des Folks. „Ys“ ist ein Werk im Zeichen des „l’art pour l’art“, eine surreale Lebensergründung, voller Trauer, Poesie und abstruser Fantasie.

Vielleicht trifft sie genau damit einen Nerv: Die politische und gesellschaftliche Wirklichkeit ist zum unübersichtlichen Terrain geworden. Joanna Newsom wendet sich mit ihren verschnörkelten Harfenklängen nach innen. Sie legt Seelenlandschaften frei, sie springt in den Spiegel.

Joanna Newsom, „Ys“ ist bei Drag City (Rough Trade) erschienen.

Hendrik Lakeberg

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