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Feiert am Sonntag seinen 65. Geburtstag: Haruki Murakami.

© Imago/Christian Thiel

Haruki Murakamis neuer Roman: Der sechste Finger

Genie und Rezept: Wie Haruki Murakami mit seinem Roman „Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki“ wieder alle Leser betört.

Von Gregor Dotzauer

Ein gutes Buch, sagte ihm einmal sein Freund John Irving, funktioniere wie ein Schuss, den man sich setzt: Hinterher sollten die Leser süchtig sein. Darauf legt es auch Haruki Murakami mit seinem 13. Roman „Die Pilgerreise des farblosen Herrn Tazaki“ an. Hochkonzentrierter Stoff, der anders als zuletzt sein Monumentalwerk „1Q84“ keinen Moment lang den Verdacht erweckt, er könne gestreckt worden sein. Das ist zwar noch kein literarisches Kriterium, spricht aber, so rezeptartig Murakami wieder verfährt, zumindest für eine handwerkliche Sorgfalt und Suggestionskraft, die Irvings verquasselter Prosa seit Jahren fehlt.

Nach einer Zeit, in der ihn viele auch in seiner japanischen Heimat als Schriftsteller nicht ernst nehmen wollten, hat sich mittlerweile eine fast besinnungslose Verehrung eingestellt, die Murakami schon in Nobelpreisregionen wähnt. Mit beidem wird man ihm nicht gerecht, wobei es dem Schriftsteller selbst herzlich egal zu sein scheint, höheren Erwartungen zu genügen als denen seiner Millionen Fans. Sie ein ums andere Mal mit den vertrauten Zutaten zu versorgen, heißt für ihn nur etwas anderes, als sie bloß damit abzuspeisen.

Einer der erstaunlichsten Züge an Murakamis Romanen ist, dass ihre oft schlicht anmutenden Lebensweisheiten nicht zur reinen Erbauung taugen. Was heißt es also, wenn sie einem wieder und wieder mit küchenpsychologischen Prinzipien kommen? Ist es nicht der älteste aller Hüte, sich auf die Stimme seines Herzens zu besinnen? Muss man sich eigentlich noch einmal an die Pflicht erinnern lassen, für die eigenen Überzeugungen zu kämpfen? Und hat nicht jeder das Recht, an lebensbedrohliche Krisen nicht mehr zu rühren, wenn ihre zerstörerische Gewalt nachgelassen hat?

Murakamis Stärke besteht seit jeher darin, mit dem spontan Einleuchtenden nicht einfach Einverständnis zu erheischen. Er zeigt es in immer neuen Variationen und als genau jenen langwierigen Kampf ums Elementare, der die vermeintlich einfachen Wahrheiten des Lebens dann doch so kompliziert macht. In dieser Hinsicht unterscheiden sich seine sprachlich wie strukturell sonst so konventionellen Romane von aller Trivialliteratur. Sie baden nicht in großen Gefühlen, um den Leser im Kitsch von Ersatzemotionen zu ertränken, sondern appellieren mit der ganzen Macht eines „Du musst dein Leben ändern!“ an innere Wahrheiten, die es geduldig und schmerzhaft freizulegen gilt. Im selben Maß, in dem Murakami auf Nummer sicher geht, geht er aufs Ganze.

Auftritt Tsukuru Tazaki, der Protagonist der „Pilgerjahre“. Man könnte ihm problemlos ganze Passagen aus „Naokos Lächeln“ unterschieben, dem Roman, mit dem Murakami 1987 seinen Weltruhm begründete. Denn der bald 20-jährige Student, als den man Tsukuru kennenlernt, ist von der Idee des Todes so besessen wie der gleichaltrige Toru vor einem Vierteljahrhundert. „Mitten in meinem jungen Leben“, hieß es damals, „drehte sich alles um den Tod.“ Und nun: „Die Schwelle vom Leben zum Tod zu überschreiten, wäre so leicht für ihn gewesen, wie ein rohes Ei zu schlucken.“

Seite 2: Der Held hört Thelonious Monks Ballade "Round Midnight"

Das Cover des neuen Romans von Haruki Murakami.
Das Cover des neuen Romans von Haruki Murakami.

© Abbildung: Dumont Verlag

Mit Hajime, dem Helden aus „Gefährliche Geliebte“, der ein Loch im Bauch spürte, teilt er eine ähnliche Empfindlichkeit, diesmal am Rücken. „Sie war unsichtbar, diese wundersam weiche und verborgene Stelle, die er selbst nicht berühren konnte. Aber wenn er selbst es am wenigsten erwartete, machte sie sich plötzlich bemerkbar, als würde jemand mit dem Finger darauf drücken. In solchen Momenten wurde in seinem Inneren eine Substanz freigesetzt und über die Blutbahn in jeden Winkel seines Körpers transportiert, die ihn zugleich körperlich und geistig erregte.“

Auf Schritt und Tritt bewegt man sich in Murakami-Land. Tsukuru ist einer seiner Enddreißiger, die genügend Vergangenheit mit sich herumtragen, um ihnen ein paar alte Geheimnisse mitzugeben, und noch ausreichend Zukunft haben, um das Lebensruder noch einmal herumzureißen. Man begleitet ihn wie seine Vorgänger ins Schwimmbad, man hört mit ihm ausgiebig Musik. Insbesondere Franz Liszts Klavierstück „Le mal du pays“ aus dem ersten Teil der „Années de pèlerinage“, die sich auch im Romantitel finden, sowie Thelonious Monks Ballade „Round Midnight“: ein Soundtrack, der wie derjenige seiner früheren Bücher im Netz als Playlist kursiert. Und man folgt ihm bis in seine obskursten sexuellen Träume, an denen diesmal sogar ein Mann beteiligt ist.

Unverkennbar auch der Wendepunkt zwischen existenzieller Fühllosigkeit und Aufbruchswille, an dem sich Tsukuru befindet, seit er Sara kennengelernt hat. Anfangs ist sie für ihn nur eine angenehme Affäre. Doch dann bringt sie ihn dazu, dem rätselhaften, fast 20 Jahre zurückliegenden Bruch mit der Viererclique nachzugehen, der ihn nach gemeinsamen glücklichen Schülerjahren in Nagoya als Student aus der Bahn warf. Auf einmal wollte keiner mehr mit ihm zu tun haben, nicht die beiden Jungen mit Nachnamen Rotkiefer und blaues Meer, und nicht die Mädchen namens schwarzes Feld und weiße Wurzel. Tazaki, der als Einziger keine Farbe im Namen trug und sich auch so fühlte, wusste nicht mehr ein noch aus.

Die Symbolik hat etwas Aufdringliches, und dass Tsukuru die Freunde von einst nun der Reihe nach aufsucht, wird bis zur Katharsis in Finnland Kapitel für Kapitel allzu schematisch abgearbeitet. Die philosophischen Exkurse zum LeibSeele-Problem und zum freien Willen sind dürftig, das Spiel mit dem Prometheus-Mythos wirkt forciert. Und doch schließt sich alles zu einem überzeugenden Universum zusammen, nicht zuletzt dank einer virtuosen Leitmotivtechnik. Tsukurus Passion für Bahnhöfe und deren Architektur, aus der er einen Beruf gemacht hat, ist dabei nur das absonderlichste Versatzstück.

Jegliches Murakami-Parfüm verfliegt auch durch die Gewalt, die seinen Büchern innewohnt. Zwischen Selbstmorden und Morden ist das Abgründige seiner Figuren allgegenwärtig. Tsukurus frühere Freundin, die schöne Shiro, die, wie man bald erfährt, das Auseinanderbrechen der Clique ausgelöst hat, lebt nicht mehr, als er mit seinen Nachforschungen beginnt. Sie ist von einem Unbekannten erdrosselt worden, hatte sich indes zuvor schon selbst an den Rand des Todes gebracht.

Murakami findet für die vielfältigen seelischen Blockaden, unter denen seine Figuren leiden, oft sehr simple, aber eindrückliche Körperbilder. Seine Romane sind im Grunde zeitgenössische Märchen: voller fantastischer Einsprengsel und reich an archetypischen Vorstellungen, die aus der Schmucklosigkeit seiner Prosa doppelt hervorstechen. Im besten Fall entstehen Passagen von halluzinatorischer Wirkung wie die in den Hauptroman eingelassene Erzählung über den Vater von Tsukurus Freund Haida.

In den Bergen der Insel Kyushu, in einer kleinen Reiseherberge, begegnet er einem schweigsamen Gast namens Midorigawa, der sich als Jazzpianist entpuppt. Eine kostbare Viertelstunde lang hört er zu, wie Midorigawa – „grüner Fluss“ – eine unvergleich tiefe Version von „Round Midnight“ herbeiimprovisiert. Beim Spielen deponiert der Gast einen ominösen kleinen Stoffbeutel auf dem Instrument, den er als Talisman bezeichnet, ja als sein „anderes Ich“. Und verliert danach die Lust, jemals wieder ein Klavier zu berühren.

Haidas Vaters wird erfahren, dass Midorigawa, ein Mann um Mitte 40, zum Sterben in die Berge gekommen sei – wenn er das Mal des Todes, das er trage, nicht an jemand anders weitergeben könne. Der Leser wird sehr viel später erfahren, dass in dem Beutel womöglich ein sechster Finger des Pianisten lag.

Das ist alles hart an der Grenze zum esoterischen Quatsch, aber es gräbt sich ins Gedächtnis ein – auch weil die suspension of disbelief bei Murakami so mächtig ist. „Talent“, erklärt Midorigawa, „funktioniert nur auf der Basis äußerster körperlicher und geistiger Anspannung. Sobald sich irgendwo in deinem Gehirn eine Schraube lockert oder an deinem Körper ein Draht reißt, löst sich deine Konzentration auf wie Morgendunst.“ Das gilt auch für diesen Roman: In den „Pilgerjahren“ steckt die ganze Anspannung, zu der Haruki Murakami fähig ist.

Haruki Murakami: Die Pilgerjahre

des farblosen Herrn Tazaki. Roman.

Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe.

DuMont, Köln 2014. 318 Seiten, 22,99 €.

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