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Mummenschanz als Dummenchance. Onlinepöbler verstecken sich gern.

© dpa

Hass-Kommentatoren im Internet: Masken für Millionen

Verkleiden gehört zum Ausnahmezustand beim Karneval. Im Internet ist aggressive Anonymität die Regel. Die Cyberagora verfügt über unbegrenzten Platz, ihre millionenfache Produktion könnte kein Archiv inventarisieren.

Von Caroline Fetscher

Mehrere seltsame Gestalten geraten miteinander ins Gespräch. Auf der Onlineplattform eines Magazins debattieren sie über Flüchtlinge aus Algerien, Tunesien und Marokko, über den Status dieser Länder in der Causa Asyl, über unfähige Politiker und mediokre Medien.

Und haben sich selber Namen gegeben wie tulius-rex, nogogirl, alter-nativlos, babylonka, schwaebischehausfrau, globus1, frenchie3 oder wahrsager26. Im Erfinden von Namen für ihre virtuelle Existenz im Netz sind die Kommentatoren unerschöpflich schöpferisch. Nicht minder erfinderisch wie bei ihrer digitalen Selbsttaufe sind solche Debattanten beim Basteln von Verschwörungstheorien, beim Aufstellen von Forderungen oder Erheben von Ansprüchen, beim Austausch von Anekdoten als Beweismittel in ihrem tendenziell niemals endenden Prozess gegen die Wirklichkeit. Sie haben die Fakten dicke, und das lassen sie wen auch immer, wo auch immer wissen. Im Allgemeinen achten die Cyberschreiber wenig auf Grammatik und Orthografie. Sie wollen ihren Inhalt transportieren oder einfach nur ihr Gefühl.

Aggression und Höflichkeit

Untereinander begegnen sie sich häufig mit einer Mischung aus vorsätzlich erkennbarer, gebremster Aggression, ironischer Höflichkeit oder offener Obstruktion. Als „Troll“, so erläutert das Internetlexikon Wikipedia, „bezeichnet man im Netzjargon eine Person, welche Kommunikation im Internet fortwährend und auf destruktive Weise dadurch behindert, dass sie Beiträge verfasst, die sich auf die Provokation anderer Gesprächsteilnehmer beschränken und keinen sachbezogenen und konstruktiven Beitrag zur Diskussion enthalten.“

Sie suchen primär Aufmerksamkeit, die originellen Trolle. Anderen geht es um Austausch, manchen um Zeitvertreib, vielen um das Loswerden von Enttäuschung und Frustration. Sie wollen „endlich auch mal“ etwas öffentlich aussprechen dürfen, ihre je eigene Wahrheit aussäen und das Feld der Saat verteidigen. Und die das wollen und tun, jetzt und in dieser Sekunde, rund um den Globus, sind Hunderttausende, es sind Millionen. Die vox populi hat im Lauf von kaum zwei Jahrzehnten einen sphärenweiten Resonanzraum erhalten, den Cyberspace. Endlich auch mal was sagen dürfen, ein Traum ist wahr geworden!

Auf eine Holzkiste steigen, die Stimme erheben, eine Rede halten. Nicht selten haben Aufbruch, Meuterei oder doch zumindest Reform mit so einer Szene angefangen. Ein Unbekannter bekam einen Namen und ein Gesicht, während er bei hellem Tageslicht vor aller Augen und Ohren seine Ideen und Forderungen zur Diskussion stellte.

Wo Marx das Wort erhob

Im Londoner Hyde Park existiert seit 1872 die Speakers’ Corner, wo jenseits etablierter Medien und Parlamente jeder Bürger frei reden darf. Speakers’ Corner ist ein konkretes Symbol für den Kerngehalt von Demokratie. Englands Arbeiterbewegung nutzte den Ort, Karl Marx hatte dort gesprochen, später George Orwell. Beim Besuch des Britischen Parlaments im Februar 2014 hob Angela Merkel die tiefe Bewegtheit hervor, die dieser Ort der freien Rede von London bei Ostdeutschen auslöste.

Antikes Modell für einen Ort freien Meinungsaustauschs ist die Agora, der Athener Marktplatz, der vor zweieinhalbtausend Jahren zum Versammlungsort der Polis wurde und damit zum Geburtsort demokratischer Öffentlichkeit. Auf diesem grandiosen Vorbild basieren demokratische Parlamente und freie Medien. Gleichwohl haftet diesen Räumen, auch wenn es noch so demokratisch in ihnen zugeht, der Makel an, jeweils nur einen privilegierten Teil der Meinungen zu repräsentieren, die in der Polis zirkulieren. Zugang zum Ort der öffentlichen Rede – deshalb entstand überhaupt so etwas wie der Speakers’ Corner – hatte nur, wer durch Wahl, Beruf oder Stand spezielle Legitimation hielt.

Eine ideale Agora herzustellen, eine umfassende, alle einbeziehende, die der ganzen Vielfalt der vox populi Gehör verschaffte, das schien schier unmöglich. So unmöglich wie es ist, eine abstrakte Idee konkret und nicht symbolisch in Realität zu transformieren. Schon in Rom und Athen sprossen anonyme Graffiti auf den Mauern, verfasst von denen, die nicht aufs Rednerpult durften. In Pompeji findet sich ein skeptischer Spruch in bestem Latein: „Admiror, o paries, te non cecidesse ruinis, qui tot scriptorum taedia sustineas“ („Oh Wand, ich bewundere dich, dass du noch nicht in Trümmer zerfallen bist, während du den Unfug so vieler Schreibender erträgst.“). Im Allgemeinen achteten auch die Wandbeschrifter der Antike, ob es ihrer Kommunikation um politischen Protest, um Werbung oder Obszönes ging, wenig auf Grammatik und Orthografie.

Volkes Stimme suchte sich durch subversive Formen nicht nur im Wortsinn ihre Nischen durch Kritzeleien an Abort-, Katakomben- und Zellenwänden, sondern auch auf offener Straße über Parolen an Wänden, anonyme Flugblätter oder Transparente auf Demonstrationen. Die verbale Mitsprache der Masse blieb eingeschränkt – bis mit einer technischen Revolution, der digitalen, das gigantische Vernetzen einsetzte. „Jetzt reden alle!“ lautete dessen Maxime.

Teilhabe ohne Grenzen

Zur riesigen, inklusivsten Agora aller Zeiten wird inzwischen das weltweite Netz deklariert, die Debattenpiazza der digitalen Postmoderne. „Agora“ war der Name eines frühen, 1997 erfundenen Webbrowsers. 2005 wurde in Russland die „Agora Human Rights Association“ gegründet, die sich für die freie Meinung im Netz einsetzt.

Möglich geworden scheint die totale Kommunikation von jedem oder jeder mit jedem oder jeder. Zahllose soziale Netzwerke und mediale Formate dienen potenziell allen, die wollen, als Forum für Ansichten, Erzählungen, Dispute, Forderungen und Proteste. Möglich wurde das durch ein technisches Wunder, die in Bits und Bytes aufgelöste Übermittlung von Schrift und Bild. Der Teilhabe aller scheinen keine Grenzen, heute noch besser: Obergrenzen, gesetzt. Keiner muss sich mehr auf eine Kiste stellen und auf Passanten einschreien. Was ich sagen will, kann ich über einen Tweet, Blogeintrag oder Onlinekommentar absetzen und mich danach trollen.

Denn keiner weiß, wer ich bin! Fundamental unterscheidet das die Cyberagora von der analogen, kleineren Agora der Parlamente oder öffentlichen Reden. Auf der klassischen Agora trete ich mit meinem Namen auf, der Platz liegt im Licht, ich zeige mein Gesicht und muss Verantwortung für das tragen, was meine Stimme sagt. Ich sehe die anderen, sie sehen mich. Auf der Cyberagora trete ich hinter der Larve eines Pseudonyms auf, der Platz liegt im Dunkeln. Für das, was ich sage, muss ich keine Verantwortung tragen und bin niemandem Rechenschaft schuldig. Weder sehe ich die anderen, noch sehen sie mich.

Larvieren wird zur Regel

Das Geschehen auf diesem Onlinemarktplatz hat dort, wo Anonymität, Larvieren und Verkleiden die Regel sind, mit dem demokratischen Ideal nichts, mit demokratischer Praxis kaum etwas zu tun. Im Gegenteil darf die Annahme gelten, dass diese Agora einer Parodie ihres demokratischen Vorbilds gleicht, einem permanenten, wirren Maskenball. Fundierte Argumente treten neben unsortiertem Unfug auf, schöne Kostüme neben obszönem Glitter oder ostentativ zur Schau getragenen Lumpen. Mummenschanz und Larventanz als Dummenchance, dieses Bild bietet sich. Es ist eine Agora in Agonie.

Erstaunlich viele Pseudonyme der anomischen Online-Community zeugen von Interesse für die Mythen und Helden der Antike. Allein aus den Decknamen vieler Kommentatoren, die das Forum dieser Zeitung beschicken, ließe sich das Personal für „Asterix in Digitalien“ versammeln. Da gibt es: Vercingetorix, Icarus, DiabolusParvus, tiber5, voxpopuli11, civis24, Caliban , Theklas, Epikureer, kakophonie, cuibono, oremus, alligatorix, satyr, Planetarium, spreeathen oder Philoktes. Beliebt sind daneben Namen mit coolem, anglophonenen Sound, etwa MacthePirat, Soldier, jonnyrotten, SgtFlower, the_master, snackfurt, soulrighter, McNulty, Rainmaker84 oder InspectorBarneby. Ebenfalls prominent treten Autoritäten des Urbanen auf, Stadtkenner, Polizeiphilosoph, Oberamtsrat, Kutschenfahrer. Unter den gesuchten wie WilderEber, Deutschertroll, derbergruft oder krassmann schießt der selbst ernannte geruempelsynchronisierer den Vogel ab. Soziologischer Stoff verbirgt sich hier allemal.

Medien und Markt sind durchaus interessiert an all der Resonanz und den Anregungen der Freizeitfachleute. Was sagen sie über Ökonomie und Ökologie, Schulen, Baupläne, Eisenbahnen, die Konflikte in Nahost oder in der Ukraine? Was wollen sie, was kann man ihnen verkaufen? Über unbegrenzten Platz verfügt die Cyberagora, ihre millionenfache Produktion könnte kein Archiv der Gegenwart wie Zukunft inventarisieren. Bei Tag und bei Nacht werden hier kollektiv die Textvolumen gefertigt, die alle paar Minuten so viel Text enthalten wie ganze Romane.

Anonyme Anpöbler

Warum aber anonym? Wozu die Masken? Warum der Tanz im dunklen Raum? Das wird so nicht bleiben können, soll die demokratische Öffentlichkeit weiter gedeihen. Als der Autoverkehr entstand, kurvten die wenigen Wagen ohne Kennzeichen umher, Ampeln und Verkehrsschilder gab es nicht. Wer jemanden rammte, kam, wenn er wollte, davon. Dann erfand man Regeln, normative Ordnungssysteme, die für den Fahrer am Lenkrad galten. Die Anarchie, so schön wie antisozial, wurde in ein System transformiert, das zur Verantwortung verpflichtete. Nicht anders dürfte sich eines Tages die Transformation der Trolle und Denker im Cyberspace gestalten, die dann im Wortsinn an einem demokratischen Face-Book mitschreiben. Auf der Agora entstehen dann Texte mit Gesichtern, mit Namen und Verantwortung.

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