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Kultur: Haut und Wunde

Laurent Mauvignier fragt: „Was ist ein Leben wert?“.

Engagierte Literatur kann mehr sein als eine ästhetische Fußnote zu längst vergangenen ideologischen Debatten. Allein durch genaues Beobachten und Verdichten des Alltäglichen kann sie oft mehr bewegen als jeder politische Slogan. Ein französischer Autor erinnert jetzt wieder daran, wie Literatur sich an der Gesellschaft reiben kann, ohne irgendeiner Parteilinie verpflichtet zu sein.

Laurent Mauvigniers schockierend rasante, in leuchtendes Rot gebundene Erzählung „Was ist ein Leben wert?“ ist so etwas wie das literarische Pendant zu Stéphane Hessels Fibel der wahren Bürgertugend, „Empört Euch!“ Ohne Absatz, ohne je durch einen Punkt den Atem anzuhalten, schildert Mauvignier in einem einzigen langen Satz die Chronik eines nicht angekündigten Todes, die Anatomie einer Höllenfahrt, die mit dem zufälligen Griff ins Bierregal eines Vorortsupermarktes beginnt.

Mit höchstem Raffinement spult er einen Film zurück, der eine unvorhergesehene Wendung ins Grauen nimmt. Dabei entlarvt er zugleich jede nachträgliche sprachliche Kanalisierung des Schreckens als nicht hinnehmbare Verharmlosung im Gewand der political correctness. Stattdessen greift sein Erzähler auf die direkte Anrede in der zweiten Person zurück, was eine Sogwirkung entfaltet, der sich keiner entziehen kann: Hier gelingt tatsächlich das Kunststück, vom fremden, zusammengeschlagenen Mitmenschen als „Bruder“ zu sprechen, ohne ein falsches Pathos anzustimmen.

Mauvignier, der bereits mit dem Algerienkriegsroman „Die Wunde“ an ein Tabu der französischen Nachkriegsgesellschaft rührte, hat mit seiner auf einer wahren Begebenheit basierenden Erzählung einen Text geschrieben, der Joseph Conrads „Herz der Finsternis“ in die Anonymität eines europäischen Supermarkts verlegt. Das geht unter die Haut: „… dass dein Bruder für dich immer wie eine aufgerissene Wunde in deinem Leben sein wird und du dir jahrelang das Gehirn zermartern wirst, um es zu begreifen, um jede Minute und Sekunde nachzuvollziehen, dort, zwischen den Paletten und Gabelstaplern …“

Wörtlich übersetzt lautet der Titel von Mauvigniers bedrängender Prosa übrigens „Was ich Vergessen nenne“. Wer sie indes gelesen hat, wird sie nicht mehr vergessen können. Jan Röhnert

Laurent

Mauvignier:

Was ist ein Leben wert? Aus dem

Französischen von

Annette Lallemand. dtv, München 2013.

96 Seiten, 8,99 €.

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