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Hawken-Roman"Die toten Frauen von Juárez": Eine Stimme mehr

Sam Hawkens Roman „Die toten Frauen von Juárez“.

Man kann von dem Titel dieses Romans leicht in die Irre geführt werden. Hat man es hier mit einem Sachbuch, einem erzählenden Sachbuch zu tun? „Die toten Frauen von Juárez“ gibt es wirklich. Es sind die über 600 jungen Frauen, die seit 1993 in der mexikanischen Grenzstadt Ciudad Juárez vermisst werden oder tot aufgefunden wurden. Es gibt Verdächtige, aber keine nennenswerten Verurteilungen. Es gibt Theorien über einen oder mehrere Serientäter, aber keine Beweise. Und es gibt Spuren, die ins Drogen- und Prostitutionsmilieu führen, aber Mexiko befindet sich sowieso in einem heftigen Drogenkrieg.

Der US-Autor Sam Hawken benutzt die Frauenmordserie als realen Hintergrund für seinen Krimi. Die erste Hälfte besteht aus dem Porträt des amerikanischen Boxers Kelly Courter, der Drogenprobleme hat und sich in Juárez mit fingierten Boxkämpfen über Wasser hält. Eine echte Jim-Thompson-Figur. Courter will raus aus dem Sumpf, auch mithilfe seiner Freundin Paloma, die sich in der Gruppe „Mujeres Sin Voces“ für die verschwundenen Frauen engagiert. Als Paloma brutal ermordet wird, kommt Courter ins Gefängnis, wird gefoltert, fällt ins Koma fällt und stirbt. Die zweite Romanhälfte übernimmt deshalb der melancholische Polizeiinspektor Sevilla. Dessen Tochter ist ebenfalls verschwunden, seine Ehefrau hat sich das Leben genommen. Sevilla fängt an, die Fälle von Paloma und Courter zu ermitteln, und dringt tief vor in das Geflecht von Korruption und Immobilienspekulation, Prostitution und Drogen.

Überzeugt Hawken in der ersten Hälfte durch intensive, atmosphärische Schilderungen von Juárez, so drückt er in der zweiten auf das für einen Thriller typische Tempo. Da wechselt er vom Jim-Thompson- in den James-Ellroy-Modus: kurze Kapitel, schnelle Schauplatzwechsel, fesselnder Showdown. Entgegen der Wirklichkeit sorgt Sevilla für ein wenig Gerechtigkeit. Die übrigens Hawken auch für die Rezeption seines Romans einfordert. Denn der 2004 verstorbene Chilene Roberto Bolano hat in seinem Meisterwerk „2666“ den toten Frauen ebenfalls ein langes Kapitel gewidmet. Hawken wird mit dem berühmten Kollegen oft konfrontiert und verglichen, was nicht ganz fair ist. Er hat einen Genreroman geschrieben. Und der ist ihm gelungen. Gerrit Bartels

Sam Hawken: Die toten Frauen von Juárez. Roman. Aus dem Englischen von Joachim Körber. Tropen Verlag, Stuttgart 2012. 316 S., 19, 95 €.

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