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Kultur: Hector, der Held

Mit Daniel Harding und dem London Symphony Orchestra startet das Musikfest Berlin

Keine Reden. Keine festliche Programmauswahl. Kein Chichi. Beim „Musikfest Berlin“ geht es sofort zur Sache, sogar am Eröffnungsabend. Seit Winrich Hopp der künstlerische Leiter des aus den „Festwochen“ hervorgegangenen Herbstfestivals ist, fordert er das hauptstädtische Publikum gleich zum Saisonstart mit anspruchsvollen Konzerten und komplexen Gedankenspielen heraus. Diesmal soll Igor Strawinsky, der Revoluzzer aus Russland, der ab 1910 mit seinen Ballettmusiken Paris aufmischte, um sich dann bis ins hohe Alter stilistisch immer wieder neu zu erfinden, in Dialog treten mit zwei Protagonisten der Nachkriegskulturgeschichte. Pierre Boulez und Luciano Berio sind zwar berühmte Namen, ihre Werke jedoch stehen viel zu selten auf den Notenpulten. Hopp will das ändern, will mit dem Geld, das der Bundeskulturbeauftragte dem „Musikfest“ spendiert, das Repertoire der letzten Jahrzehnte pflegen, Leitfiguren der Avantgarde neu zur Diskussion stellen – Überraschungen nicht ausgeschlossen. Modernität, das wird beim Eröffnungskonzert mit dem London Symphony Orchestra in der Philharmonie erlebbar, ist keine Frage des Alters.

In den sechziger Jahren, als Luciano Berio die „Folk Songs“ und seine „Sinfonia“ komponierte, war die Collagetechnik der letzte Schrei. Doch selbst wenn man sich das in Erinnerung ruft – und dazu die Empörung, die die respektlosen Mixturen beim Establishment auslösten – erscheinen Berios Stücke heute ziemlich démodé: Die von einer sanft verfremdeten Klangfolie unterlegten „Folk Songs“ wirken wie ein putziger Lieder-Setzkasten, so wandlungsfähig und seelenvoll Kelley O’Connor die Fundstücke aus diversen Ländern auch vorträgt. Und die virtuos gemachte „Sinfonia“ klingt für heutige Ohren sogar geradezu nach Wellnessmusik. Allein im dritten Satz, der über weite Strecken Gustav Mahler zitiert, erahnt man Provokationspotenzial, wenn die acht Sänger von den Synergy Vocals per Mikrofon den Orchesterklang zutexten.

Was ästhetische Sprengkraft ist, machen Dirigent Daniel Harding und seine maximal motivierten Londoner nach der Pause klar: mit Hector Berlioz’ „Harold in Italien“, komponiert 1834. Hier wird jede Anstandsregel der klassischen Tonsatzlehre gebrochen, rücksichtslos, leidenschaftlich, weil das Sujet es erzwingt. Ungeheuerliche Musik eines Autonomen. Verkörpert von einer SoloBratsche, wandelt Byrons „Childe Harold“ durch die vier Sätze der Sinfonie. Doch statt mit Virtuosem aufzutrumpfen, monologisiert die Viola. Die grandiose Tabea Zimmermann zeichnet Harold als freien Geist, als komischen Kauz auch, der seine Selbstgespräche führt, oft völlig ungerührt von dem, was gerade um ihn herum erklingt. Gespenstisch huscht ihr Bogen in den Mittelsätzen über die Saiten, melodielos, verstörend. Unendlich einsam wirkt Zimmermann da in der Podiumsmitte, ein Luftgeist im weißen Kleid. Auch im wild aufbrausenden Geschehen des Finales setzt die Bratsche ihr eigenes Tempo, hängt Erinnerungen nach, wird aus der Gemeinschaft ausgeschlossen, erzwingt sich erst ganz am Schluss für einen Moment die kollektive Aufmerksamkeit. Große, 176 Jahre junge Musik!

Das Musikfest läuft bis zum 21. September. Infos: www.berlinerfestspiele.de

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