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Lichtgestalt. Marius Müller-Westernhagen, 61, gelang mit seinem Album „Williamsburg“ letztes Jahr ein Comeback. Foto: Davids/Hübner

© DAVIDS/Huebner

Kultur: Heiliger Bimbam

Konservativer Rebell: Marius Müller-Westernhagen in der O2 World

Der Refrain klingt wie ein Aufschrei, ein Aufruf zur Rebellion. „Wir haben die Schnauze voll“, kreischt Marius MüllerWesternhagen, begleitet von einem rumpelnden Schlagzeug und den aufheulenden Akkorden einer Blues-Gitarre. Es könnte der Song zur Lage derNation sein, denn die Schnauze voll haben derzeit nicht wenige. Mehr als 13 000 Zuschauer sind in die fast ausverkaufte Berliner O2 World gekommen, um Müller-Westernhagen zuzuhören, und viele singen mit: „Wir haben die Schnauze voll / Von euren schmutzigen Tricks.“ Doch um Politik geht es gar nicht in der aktuellen Single des Deutschrock-Stars. Das Lied ist eher eine Art Glaubensbekenntnis, das die Bedeutung der Kunst in den höchsten Tönen preist: „Heilig ist die Musik / Verflucht sei, wer sie betrügt.“

Müller-Westernhagen, der im Dezember 62 wird, hat es geschafft, das Image eines Underdogs zu bewahren, obwohl er schon längst keine T-Shirts mehr trägt, sondern Maßanzüge. „Ich bin einer dieser Typen, die man nicht verbiegen kann“, heißt es in der Ballade „Ein Mann zwischen den Zeilen“, die er im ersten Zugabenblock des zweieinhalbstündigen Abends singt. Müller-Westernhagen ist konservativ. An seinem Blues-, Soul- und Boogierock hat sich kaum etwas geändert, seit ihm 1978 mit dem Album „Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz“ der Durchbruch gelang. In den neunziger Jahren füllte er Stadien, nach der Jahrtausendwende begann der Abstieg. Müller-Westernhagen verlor seinen Plattenvertrag und schien erledigt. Aber mit der Platte „Williamsburg“, aufgenommen in New York, feierte der Sänger im letzten Jahr ein spektakuläres Comeback.

„Das ist das erste Konzert in meiner neuen Heimatstadt“, sagt Müller-Westernhagen, als er das Publikum begrüßt. „Meine Frau und ich brauchten einen Tag, dann haben wir uns schon als Berliner gefühlt.“ Das wirkt ranschmeißerisch, aber auch rührend, denn von seinen mit ihm alt gewordenen Fans – das ist vom ersten Augenblick an zu spüren – wird der Mann tatsächlich geliebt. Müller-Westernhagen, der von Hamburg in die Hauptstadt gezogen ist, gibt eine Mischung aus Dandy und Bühnentier. Er ist unablässig in Bewegung, stakst die Rampe entlang, schreit „Yeah, Yeah, Yeah“ und gockelt herum wie Mick Jagger. Das Jacket bleibt zugeknöpft, die Augen sind hinter einer John-Lennon-Sonnenbrille versteckt.

Die siebenköpfige Band, die hauptsächlich aus Amerikanern und Briten besteht, spielt sich routiniert durch das Programm. Zerdehnte Bottleneck-Gitarrentöne verleihen einigen Stücken ein Country-Aroma, bei den langsameren Nummern ist ein sanft säuselndes Saxofon zur Stelle. Müller-Westernhagen singt sieben Titel aus dem „Williamsburg“-Album, aber die Zuschauer jubeln vor allem bei den alten Hits. Die Hedonismus-Hymne „Willenlos“, die sexuelle Eroberungen bei „Erika, Barbara und erst recht Marie“ auflistet, geht bruchlos über in den Stampfrock eines Trennungsdramas: „Ich bin fertig mit dir“.

Am Anfang seiner Karriere hat Marius Müller-Westernhagen Stücke geschrieben, die Milieustudien und Kurzgeschichten waren. Seinen vielleicht schönsten Song „Mit 18“ spielt er als Zugabe. Eine wehmütige Erinnerung an die eigenen Anfänge: „Wir verdienten 400 Mark pro Auftritt / Für ’ne Rolling-Stones-Kopie / Die Gitarren verstimmt und es ging tierisch los / Und wir hielten uns für Genies.“ Später wurden seine Texte immer pathetischer. Kurz vor Schluss singt Müller-Westernhagen den Wiedervereinigungs-Hit „Freiheit“. Leuchtstäbe werden geschwenkt, Feuerzeuge flammen auf.

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