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Kultur: Heiliger der letzten Tage

Spätvorstellung: Pete Doherty und die Babyshambles in Berlin

Pete Doherty gibt dem Begriff Ausnahmemusiker eine neue Bedeutung: Es wäre die Ausnahme, wenn ein Konzert des vermutlich unzuverlässigsten Popstars der Gegenwart unter vorhersehbaren Bedingungen ablaufen würde. Vor dem Columbia Club hat sich zur angekündigten Anfangszeit schon eine mehrhundertköpfige Menge versammelt. Die nimmt es mit Galgenhumor, dass eine Dreiviertelstunde später verkündet wird, der Künstler befinde sich am Londoner Flughafen, die Maschine sei quasi schon in der Luft und das Konzert werde voraussichtlich um Mitternacht beginnen. Es hat sich rumgesprochen, dass das Vorabendkonzert in Köln unter ähnlichen Voraussetzungen gar nicht stattgefunden hatte. Auch wenn es halb zwei wird, bis es wirklich losgeht, darf man es als echte Sensation begreifen, dass Pete Doherty, mit lächerlichen viereinhalb Stunden Verspätung, tatsächlich aus London eintrifft.

Der Wartefrust des schon etwas dezimierten Publikums, das gerade noch mit Bierbechern nach den wenig beneidenswerten Roadies geworfen hat, entlädt sich in begeisterter, sehr physischer Raserei, als die Babyshambles mit einer fulminanten Version von „Pipedown“ einsteigen. Viele scheinen ihr Glück kaum fassen zu können, dass der unheilige Pete aus seinem Drogen-und-Ruhm-Elfenbeinturm herabgestiegen ist, es liegt eine fast sakrale Hysterie in der Luft.

Mit seiner kreidebleichen, ungesunden Hautfarbe, riesigen, ständig umherirrenden Augen und verschraubten, katzenhaften Bewegungen erinnert Doherty an eine räudige Ausgabe von David Bowie. Er schlängelt sich ums Mikro, dreht sich mit seiner halbakustischen Gitarre um die eigene Achse, während er diese unnachahmlich löcherigen Riffs zupft, die schon den Sound seiner Ex-Band The Libertines geprägt haben. Natürlich scheint sich das Bild vom selbstzerstörerischen Junkie zu bestätigen, wenn er sich in den Kabeln verheddert, kaum verständliche Ansagen nuschelt und fast von der Bühne kippt. Aber mit seinem Charisma können nur wenige konkurrieren. Niemand kickt so lässig Becher und andere Gegenstände ins Publikum zurück.

Die Songs der Babyshambles sind mottenzerfressene Flickenteppiche. Zugleich gehören sie zum Besten, was seit The Clash und The Smiths im Königreich geschrieben wurde. Adam Ficek am Schlagzeug und Drew McConnell am Bass sind ziemlich virtuose Begleiter, die den offenen, zwischen Punk, Reggae und Kollaps-Wave pendelnden Strukturen von Stücken wie „Sticks And Stones“, „Killamangiro“ oder der wunderbaren Kate-Moss-Liebeserklärung „What Katy Did Next“ ein festes Rhythmus-Rückgrat verleihen.

Und Doherty rockt, als gäbe es kein Morgen. Beim überwältigenden „Fuck Forever“, einer definitiven Hymne des frühen 21. Jahrhunderts, wirft er sich kopfüber in die Menge und muss von Ordnern an den Füßen wieder rausgezogen werden. Obwohl es auf drei Uhr zugeht, erklatscht sich das Publikum tapfer eine lange Zugabe. An deren Ende klingen die Babyshambles zwar chaotisch wie ein Bandworkshop der Volkshochschule, aber solch charmante Katzenmusik hört man in diesem Moment lieber als alles andere auf der Welt.

Jörg W, er

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