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Kultur: Heillos

Erwin Koch zeigt, was das Leben mit der Liebe macht

Wenn die Liebe beginnt, schrumpft die Wirklichkeit auf einen kleinen Ausschnitt zusammen: Gerade mal zwei Liebende haben darin Platz. Die Liebe im akuten Zustand ist asozial. Eine Rettungsstation. Ein Vakuum. Die allgemeine Lebenslage aber ist, um es mit Niklas Luhmann zu sagen, gekennzeichnet durch eine übermäßig komplexe und kontingente Welt. Die Entscheidungsmöglichkeiten sind schier unendlich, alles könnte immer auch anders sein. Selbst die stärkste Liebe kann die im Lauf der Zeit auftretenden Erschütterungen nicht ausblenden. Wenn dann die Zweisamkeit zumindest Trost spenden kann, ist das schon viel.

„Was das Leben mit der Liebe macht“ heißt das neue Buch des Schweizer Autors und Journalisten Erwin Koch. Aber kann man von Literatur sprechen, wenn der Untertitel neun „wahre Geschichten“ ankündigt, die auf Gesprächen beruhen, die Koch als Reporter geführt hat? Ja, natürlich! Koch gelingt in den manchmal fast aufs Protokollformat gestutzten Texten etwas, was seinen Romanen teils zum Problem wurde: die auf Genauigkeit und Reduktion setzende Reportage noch stärker zu verknappen, allen Zierrat zu streichen, um eine noch intensivere Atmosphäre zu erzeugen.

Die wahren Geschichten enden alle traurig und nicht selten tragisch, und manchmal sind sie es von Anfang an. Das Leben meint es mit den Liebenden nicht gut. Mal ist es eine Krankheit, mal sind es die Verhältnisse, immer aber etwas unglückshaft von außen in den Glücksraum Eindringendes, das den Paaren das Verliebtsein verdüstert. Mal bricht das Unheil schon nach kurzer Zeit über sie herein, mal erst am Ende eines gemeinsamen Lebens.

Erwin Kochs Blick ist nüchtern. Die Dinge geschehen willkürlich, doch in grausamer Folgerichtigkeit. Selbst Romantisches wird hier mit kühler Sachlichkeit geschildert. Die Lebensläufe werden ausgeführt, aber zwischen den Zeilen schimmern die Jahre durch, die aus lauter unerzählbaren Augenblicken bestehen. Die Momente, die Koch aneinanderreiht, bilden eine Art Skizze, die der Leser zum vollständigen Bild ergänzen muss. „Doris und Josef“, so heißen zwei seiner Figuren, „reisen im Zug nach Bern, RegioExpress 3320, vorbei an Schüpfheim, Escholzmatt, Trubschachen, Hügel links, Hügel rechts, Bäume drauf und Höfe, das Emmental, in Bern haben wir neun Minuten Zeit, das reicht. Neun Minuten sind eine Ewigkeit, sagt Doris und legt ihren Kopf an seine Schulter.“ Die neun Geschichten von Erwin Koch zeigen, dass die Ewigkeit manchmal tatsächlich nur neun Minuten lang ist. Und dass der Zug meist unaufhaltsam einer Station entgegenfährt, die nicht immer etwas mit dem Wunschziel zu tun hat. Ulrich Rüdenauer

Erwin Koch: Was das Leben mit der Liebe macht. Wahre Geschichten. Corso Verlag, Hamburg 2011. 132 Seiten, 19,90 €.

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