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Kultur: Heiner Carow im Berliner Babylon und Letztes aus der DDR im Acud

Es gibt Szenen, die einen Regisseur unsterblich machen, auch wenn sein Film kein Meisterwerk genannt werden kann. In Heiner Carows früher, autobiographisch geprägter Arbeit "Die Russen kommen" aus dem Jahr 1968 (Kinopremiere 1987) sieht man durch die Leere einer geräumten Fabrikhalle in schwindelerregender Höhe zwei siebzehnjährige Burschen auf einem Betonbalken balancieren: ein geflohener russischer Ostarbeiter und Günter, sein deutscher Verfolger.

Es gibt Szenen, die einen Regisseur unsterblich machen, auch wenn sein Film kein Meisterwerk genannt werden kann. In Heiner Carows früher, autobiographisch geprägter Arbeit "Die Russen kommen" aus dem Jahr 1968 (Kinopremiere 1987) sieht man durch die Leere einer geräumten Fabrikhalle in schwindelerregender Höhe zwei siebzehnjährige Burschen auf einem Betonbalken balancieren: ein geflohener russischer Ostarbeiter und Günter, sein deutscher Verfolger. Unter ihnen halten die anderen HJ-Jungen den Atem an und ein alter Polizist richtet den Gewehrlauf auf den zitternden Russen, dem Günter die Hand hinstreckt, bis der tödliche Schuss fällt. Der Gymnasiast wird, es sind die letzten Kriegstage an der Ostsee, das EK II an die Brust geheftet bekommen. Im Traum begegnet ihm dann, wie erlösend, der lachende, längst gefallene Vater und bleibt doch, auf einem Karussell, im Zug, am Strand, unerreichbar.

Heiner Carow, 1929 in Rostock geboren, 1997 gestorben, war der filmische Fürsprecher der vaterlosen Nachkriegsgeneration in der DDR. Er hat immer wieder nach Ersatzvätern und Ersatzbindungen Ausschau gehalten. Die sozialistische Ideologie mit ihren Heilsversprechen bot sie dem Suchenden an. Im Schicksalsjahr 1968 ist es für ihn ein zorniger, aber um Verstehen bemühter sowjetischer Ortskommandant, der den Tod des wie ein Stück Wild zur Strecke gebrachten jungen Russen aufklären will. Leider steht hinter dieser Fabel eine halbe Lüge, denn die nach Deutschland verschleppten Ostarbeiter aus Russland wurden von der kämpfenden Truppe aus der deutschen Drangsal sogleich in die eines Gulag überführt.

Am Mythos des verlassenen, verratenen Jungen hat Carow sein Leben lang gearbeitet. Der Kinderfilm "Sheriff Teddy", das Kinodebüt von 1957, und die Episode aus dem kommunistischen Widerstand "Sie nannten ihm Amigo", zwei Jahre später entstanden, wendeten den Verlust ins Heroische. Junge Helden brauchen keine Väter. Später, als der Glaube an das sozialistische Idyll in ihm zerbrochen war und er sich wieder mit einem Kinderstoff, "Die Reise nach Sundevit" (1966), Empfindsamkeit zugestand, um dafür beim nächsten Werk "Die Russen kommen" mit einem Verbot abgestraft zu werden, blieb Carow der tief in ihm liegenden Betroffenheit treu. "Ikarus", die alltägliche Geschichte eines in den Wohlstandsverhältnissen der DDR nach der Scheidung der Eltern vergeblich dem Vater vertrauenden Jungen, bestimmte 1975 noch einmal die Koordinaten.

Die Verfilmung von Grimmelshausens "Simplicissimus", des von Franz Fühmann adaptierten Romans aus dem Dreißigjährigen Krieg, sollte der große historische Spiegel von all dem werden, das der Defa-Regisseur auf direktere Weise nicht sagen mochte. Es wäre zuviel zu behaupten, dass die Funktionäre den Film verhindern wollten. Er interessierte sie einfach nicht, weil die Rettung der Ideologie, und da gab es genug zu tun, für sie immer höher stand als die Darstellung des einzelnen, in die Wellentäler der Geschichte geworfenen Menschen.

"So viele Träume" heißt das aufgeregte Werk, mit dem sich Carow 1986 in die Gegenwart zurückmeldete. Schon "Die Russen kommen" war, mit seinen absichtlich unscharfen Schwarz-Weiß-Konturen, ein Traumfilm gewesen, an dessen Ende eine Wunschszene - Günters Freundin Christine schlendert mit dem russischen Jungen die Hauptstraße entland - von der Notwendigkeit befreite, in der Geschichte des mitschuldig gewordenen Deutschen die dramaturgische Konsequenz zu ziehen. Wie besessen und wider alle psychologische Wahrscheinlichkeit träumt der festgesetzte Günter, er und der Russe wären Freunde geworden.

Ein herrlicher Wunschtraum, der von Liedern der "Puhdys" stimmungsvoll begleitet wird, verzückt bis heute die Zuschauer der 1973 geschriebenen "Legende von Paul und Paula", deren herzzerreißende Sentimentalität aus einem gesteigerten Krisenbewusstsein erwuchs, das die Sprengung eines alten Hauses zugunsten der uniformen Plattenbauten symbolisch anzeigt. Der Katzenjammer folgte auf dem Fuß: das unbarmherzige Ehedrama "Bis dass der Tod euch scheidet". Später flüchtete der sich immer unbehaglicher fühlende Regisseur in andere Erlösungswünsche. "Coming out", am Tag der Maueröffnung im Kino gestartet, eröffnete dem erotischen Träumen ein bislang tabuisiertes Terrain, doch noch flüstert darin ein Kellner auf der Schwulenparty: "Wir alle haben hier Angst."

Carow hat sich einmal darüber beklagt, dass sein Publikum damals lieber in den Westen lief als in seinen Film. In dem torschaften Porträtfilm "Heiner Carow - Träume und Legenden" von Ulrich Kasten und Fred Gehler, der die fast vollständige, auch Nebenarbeiten enthaltene Retrospektive einleitet, denkt Carow, von Krankheit gezeichnet, gern an den Respekt zurück, den er auch von denen erfahren habe, die seine Projekte fleißig behinderten. Ein engagiertes Kunstverständnis hatte sich in der verspäteten DDR einige Jahre länger als im Westen halten können, der Zug in die postmoderne Beliebigkeit stand aber auch dort abfahrbereit. In den letzten Jahren blieb Carow nur, nach "Die Verfehlung" (1992) ausschließlich für das Fernsehen arbeitend, hier und da etwas Aufklärung und neue Legendenbildung beizusteuern.

Die Retrospektive im "Babylon" korrespondiert mit einem 23 Defa-Filme umfassenden Programm des "Acud", das bis in den Oktober hinein meist kritische, bis heute bemerkenswerte Filme aus Babelsberg, in jeweils mehreren Vorstellungen, wiederaufführt, von Konrad Wolfs "Lissy" aus dem Jahr 1957 bis "Miraculi" (1991) des leider verstummten Ulrich Weiß. Die Vergeblichkeit der Hoffnungen bildet den Unterton dieser seinerzeit heftig diskutierten oder auch mit Schweigen übergangenen Arbeiten von Wolf, Carow, Egon Günther, Lothar Warneke, Rainer Simon, Siegfried Kühn, Hermann Zschoche, Helke Misselwitz und Jüngeren. Es ist eine subjektive, um manche wichtigen Kinostücke ergänzungsfähige Auswahl (Roland Gräf fehlt unverständlicherweise), die aber - bleibt zu hoffen - den Staub des Vergessens von nicht dem schlechtesten Teil des deutschen Filmerbes aufwirbeln wird.Heiner Carow-Retrospektive: Bis 27. Oktober im Babylon Mitte

Letztes aus der DDR: Bis Mitte Oktober im Acud

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