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Großstadtvergnügen. Kinder auf der Knobelsdorffbrücke, Blick Richtung Charlottenburg, Sommer 1898.

© Heinrich Zille / Photographische Sammlung der Berlinischen Galerie /Courtesy Schirmer/Mosel

Heinrich Zilles Fotografien: Der Bauch von Berlin

Seine Zeichnungen waren oft sentimental, aber mit der Kamera war Heinrich Zille ein Avantgardist. Er gehörte Ende des 19. Jahrhunderts zu den Erfindern der Straßenfotografie. Ein Bildband versammelt jetzt einige seiner großartigsten Aufnahmen.

Dickbäuchige Wirte mit Lederschürze, eine Zigarette im Mundwinkel. Kleine Mädchen tragen Schleifen im Haar. Fröhliche Großstädter plantschen in plüschigen Badekostümen im Wannsee. Wer heute an Heinrich Zille denkt, denkt sofort an solche Genreszenen, an heiter-sentimentale Wimmelbilder, die den Alltag der Berliner Unterschicht von der Kaiserzeit bis in die zwanziger Jahre festhalten. Der Zeichner Zille, das ist der Mann mit dem „Milljöh“, den sie auch „Pinselheinrich“ nannten. Dabei war seine Kunst durchaus auch subversiv, etwa, wenn er eine schwangere Frau zeigte, die, mit einem Kleinkind auf dem Arm, entschlossen in Richtung Kanal strebte, um sich umzubringen. Dafür wurde er von Zeitungen als „Abort- und Schwangerschaftsmaler“ beschimpft.

Als Zille, der aus ärmlichen Verhältnissen bis zum Professor und Akademiemitglied aufgestiegen war, 1929 mit 71 Jahren starb, widmete Kurt Tucholsky ihm ein Gedicht als Nachruf: „Zweeter Uffjang, vierta Hof wohnen deine Leute; / Kinder quieken: ,Na, so doof!’, jestern, morjn, heute. / Liebe, Krach, Jeburt und Schiss ... du hast jesacht, wies is.“ Sagen, wie es ist, so lautete das Credo des naturalistischen, sozial engagierten Künstlers. Aber stilistisch blieb Zille mit seinen Zeichnungen der Tradition verbunden, ein Konservativer. Avantgardist war er auf einem anderen Feld: als Fotograf. Dass er überhaupt fotografiert hatte, war lange Zeit unbekannt. Die Abzüge und Negative aus seinem Nachlass waren im Besitz der Familie verschwunden. Zille hatte Fotografie nicht für Kunst gehalten, seine eigene schon gar nicht, nicht wert einer Veröffentlichung. Als in den siebziger Jahren dann doch die ersten Bücher mit seinen Aufnahmen aus den Jahren 1890 bis 1906 erschienen, wurden sie als Sensation gefeiert.

„Das alte Berlin“ heißt ein Bildband, der nun eindrucksvoll demonstriert, was Heinrich Zille war: der erste Straßenfotograf, ein Vorläufer von Walker Evans, Robert Frank und Vivian Maier. Am Charlottenburger Schloss zeigt er Passanten in Sonntagskleidung, die an den heroischen Kämpferfiguren auf den Torpfosten vorbeieilen. Der Schlossturm ist abgeschnitten, ein Drittel des Bildes wird von leerer Straße eingenommen. Die kanadischen Fotografen Jeff Wall und Roy Arden nennen die Aufnahme im Vorwort eines „der besten Straßenfotos seiner Zeit – aller Zeiten“. Wall ist bekannt geworden mit aufwendig inszenierten Szenen, die er in Leuchtkästen präsentiert. An Zille, dem er „serious fun“, ernsthafte Heiterkeit, zuschreibt, begeistert ihn, dass er genau andersherum arbeitete – aus dem Zufall heraus und in Serien.

Zille war mit einer Wechselplattenkamera unterwegs, die es ihm erlaubte, bis zu zwölf Bilder in schneller Folge zu belichten. Genutzt hat er die Technik bei seinen Ausflügen in den Krögel, eines dicht bebauten, schon damals todgeweihten Alt-Berliner Viertels unweit des Spreekanals in Mitte. Eine Frau steht, malerisch von Licht hinterfangen, im Durchgang zu einem Hinterhof. Auf der nächsten Aufnahme, für die der Fotograf etwas näher an den Hof heranrückte, ist sie verschwunden. Gruppen von Kindern und Handwerkern posieren vor bröckelnden Fassaden.

„Franz Noack Gas & Wasser 2 Treppen“ ist auf einem Schild zu lesen. Fotos, die Zille von Türen, Mauerecken und menschenleeren Gassen gemacht hat, erinnern an den melancholischen Surrealismus eines Eugène Atget. Der Krögel wurdet 1935 vollständig für den Neubau der Reichsmünze abgerissen.

Den Fotografen Zille gab es überhaupt nur, weil er als Retuscheur bei der „Photographischen Gesellschaft“ angestellt war, die Reproduktionen von Alten und Neuen Meistern herstellte. Dort konnte er sich eine Kamera leihen. Als Zille 1906 seine gut bezahlte Position verließ, um freier Zeichner zu werden, gab er die Kamera zurück. Damit war seine Karriere als Lichtbildner beendet. Diese Karriere, so der Kunsthistoriker Wolfgang Kemp, hatte konventionell begonnen, mit Familienbildern. Dann fotografierte Zille Berliner Sehenswürdigkeiten (Reichstag, Siegessäule, Brandenburger Tor), bevor er sich dem anderen Berlin zuwandte, dem Berlin der Kieze und dem dunklen Berlin der Prostituierten und Ganoven. Ein distanzierter Flaneur ist er nie gewesen. Zille mischte sich unters Volk und fühlte sich den kleinen Leuten, die er porträtierte, zugehörig. Versinnbildlicht ist diese Nähe in einer Aufnahme, die Zille inmitten jugendlicher Badegäste im Freibad Kochsee zeigt. Seine gestreifte Badehose spannt über dem gewaltigen Bauch.

Modern wirkt der Fotograf Zille, weil er auch das Unspektakuläre abbildet. Bretterzäune, Brandmauern, Jahrmarktsbuden, den Morast der Straßen, zum Trocknen auf ein Fensterbrett gelegte Kissen. Der Avantgardismus, so die steile These von Jeff Wall und Roy Arden, hängt mit der Korpulenz des Künstlers zusammen. Er habe die Kamera auf seinen Bauch gesetzt und dann leicht nach unten gekippt.

So entstanden Meisterwerke wie die Aufnahmen von einer wilden Müllkippe, die sich nicht weit von Zilles Charlottenburger Wohnung befand, oder von einem Umzug mit Handkarren. Die schräge Perspektive lässt an eine Kamerafahrt denken. Berlin befand sich in rasantem Wachstum, besaß um 1900 knapp zwei Millionen Einwohner. Überall wurde gebaut und abgerissen, die Stadt fraß sich an ihren Rändern immer weiter in die Natur hinein. Zilles Glasnegative befinden sich heute im Besitz der Berlinischen Galerie. Die Abbildungen im Buch folgen den Abzügen, die der Becher-Schüler Thomas Struth, heute selbst ein berühmter Fotograf, 1985 gemacht hat.

Zu den Höhepunkten von Zilles fotografischem Werk gehört die Serie der Reisigsammlerinnen. Frauen ziehen mit ganzem Körpereinsatz einen Karren mit Säcken voller Feuerholz, das sie auf einem Brachland bei Charlottenburg gefunden haben. Unten ragt der Schatten des Fotografen ins Bild. Die Szenerie ähnelt Gemälden von Max Liebermann, der Zilles Freund und Förderer war. Zille hat seine Fotos als Vorlagen für seine Illustrationen benutzt, aber nur gelegentlich.

Heinrich Zilles Zeichnungen sind oft wimmelnd belebt, seine Fotos menschenleer. Nur auf dem Rummel stürzt er sich mitten ins Gewühl vor einer Schaubude mit „Sioux-Indianern“, die allerdings von Schwarzen verkörpert werden. Er zeigt Kinder am Schaukelbalken, ein prinzessinnenhaft gekleidetes Mädchen auf einem Karussellpferd, staunend flanierende Bürger und das „Schützen Zelt Restaurant“, das bloß ein Bretterverschlag ist. Er hält selbst das fest, was kein anderer Fotograf aufgenommen hätte – die Latrinen vor einer Hauswand. Es sind Plumpsklos, daneben ist ein Mann zu erkennen, der sein Geschäft im Stehen verrichtet. Zille fotografiert die Rückseite der Großstadt.

Heinrich Zille: Das alte Berlin. Mit Texten von Jeff Wall/Roy Arden und Wolfgang Kemp. Schirmer/Mosel, München 2014. 208 S., 29,80 €.

Weitere Berlin-Bilder aus der Kaiserzeit finden Sie auf unserer Themenseite Fraktur! Dort sind alle Beiträge der Serie aus der Sonnabend-Beilage MEHR BERLIN zu lesen.

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