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Kultur: Heißes Pflaster

Straße als Kunstwerk: Die Frankfurter Schirn vergleicht Paris und Berlin im 19. Jahrhundert

So hätte der 16. Juni 1871 in Berlin aussehen können: Über die Yorckstraße marschieren blumengeschmückte Soldaten. Der frischgebackene Kaiser des Deutschen Reiches reitet ein. Vom nahen Kreuzberg donnern Salutschüsse. Überall jubelnde Menschen und schwarzweißrote Fahnen. Dass es anders kam, dass Kreuzberg nicht zum Zentrum des preußischen Hurra-Patriotismus aufstieg und der militärische Sieg über Frankreich Unter den Linden gefeiert wurde, verdankt sich – einem Planungsfehler.

1844 konzipierte Preußens großer Gartengestalter Peter Joseph Lenné den „Generalszug“: eine schnurgerade, den Siegern der Befreiungskriege gewidmete Prachtstraße zwischen Südstern und Zoologischem Garten. Paris ließ grüßen. James Hobrecht, der 1861 einen Bebauungs- und Erweiterungsplan für 1,5 Millionen künftige Berliner vorlegte, übernahm Lennés Ideen wider besseres Wissen. Denn private Eisenbahngesellschaften hatten inzwischen Anspruch auf einen Teil des Geländes erhoben. Die Bahn blieb Sieger, Lennés „Generalszug“ Fragment. Noch heute wird er zwischen Yorck- und Bülowstraße von Gleisanlagen unterbrochen, auch der geplante Park am Gleisdreieck wird das nicht kitten. Berlins Prachtboulevard kam nie zustande.

Dass sich Leben, Politik und Kultur auf dem Pflaster treffen, wusste schon Walter Benjamin, der den Flaneur in der Moderne verankerte. Die Entwicklung von Paris, der Metropole des 19. Jahrhunderts, und Berlin, der Kunst- und Industriehauptstadt der Jahrzehnte vor 1933, dokumentiert nun eine Ausstellung der Frankfurter Schirn: „Die Eroberung der Straße“. Gezeigt werden, in zwei parallelen „Straßen“ zu Paris und Berlin, stadtplanerische Dokumente, Gemälde, Karikaturen, Fotografien und Plakate.

Der „Generalszug“ steht in der Ausstellung als Symbol einer fragmentarischen, unvollkommenen Urbanisierung; ganz im Gegensatz zu den grands travaux, den großen Straßendurchbrüchen in der Pariser Innenstadt unter Baron Georges-Eugène Haussmann. Der Präfekt von Paris war erfolgreicher als seine preußischen Kollegen, weil er mit Louis Bonaparte, dem späteren Kaiser Napoleon III., einen durchsetzungsfähigen Dienstherrn hatte – und weil seine Art, Paris in die Moderne zu katapultieren, den Beifall der selbstbewussten französischen Wirtschaftsbürger fand. Berlin hatte lange das Nachsehen. Noch in den 1880er Jahren stellte Jules Laforgue, der französische Vorleser Kaiserin Augustas, hochnäsig fest: „Berlin, das ist Frankreich vor 1789.“

Die Darstellung der Metropole in Gemälden, Zeichnungen und Romanen wurde in Paris erfunden. Adolph Menzel, der bedeutendste Berliner Künstler der zweiten Jahrhunderthälfte, entdeckte den künstlerischen Reiz großer Menschenansammlungen in Paris. Zur Weltausstellung von 1867, die er sah, strömten immerhin schon 6,8 Millionen Besucher. 1900 waren es mehr als 48 Millionen.

Zum beherrschenden Thema der Kunst wurde die Stadt durch die Impressionisten. 1877 zeigten Claude Monet und Gustave Caillebotte erstmals etliche Ansichten von Boulevards und ihren Benutzern. Monet steuerte zudem seine heute in alle Welt zerstreute Serie zum Gare Saint-Lazare bei. Das ganz in Hitze und grauviolette Rauchschwaden aufgelöste Mittelformat „Außerhalb des Bahnhofes Saint-Lazare: das Signal“ aus dem Niedersächsischen Landesmuseum Hannover gehört zu den wenigen herausragenden französischen Gemälden der Ausstellung.

Die meisten Paris-Bilder kommen aus dem Musée Carnavalet, wo kulturhistorisch aufschlussreiche, aber nicht immer die besten Stücke gesammelt wurden. Eine Thesenausstellung, die die Geburt des Impressionismus aus dem Geist der Pariser Stadterneuerung herleiten will, läuft leer, wenn nur wenige Spitzenwerke zu sehen sind. In der Berlin-Abteilung konnte Hauptkuratorin Karin Sagner dagegen auf ungleich interessanteres Material zurückgreifen. Gerade weil vieles aus hiesigen Sammlungen kommt, bleibt unverständlich, warum sich Berlin diese intelligente Schau entgehen lässt.

Wunderbare Großstadtbilder von Lesser Ury bis George Grosz beleuchten, was Georg Simmel 1903 mit Blick auf Berlin als „Steigerung des Nervenlebens“ beschrieb. Im Expressionismus Berliner Prägung taucht der Einzelne aus der bunten Masse der Flaneure empor: als krankes, gehetztes Wesen, einsam und oft arm. Auch die fröhlichen Soldaten marschieren nicht mehr. Sie haben im Weltkrieg mehr als ihre Unschuld verloren.

Schirn Kunsthalle Frankfurt, bis 3. September. Katalog (Hirmer) für 34,50 €.

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