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Kultur: Helden des Übergangs

Die Hingabe der Mädchen: Tokio Hotel in Berlin

Über ein Dutzend Mannschaftswagen der Polizei stehen vor der Berliner Columbiahalle, der Eingang ist weiträumig abgesperrt. Die Menge davor ist von geringem Körperwuchs, aber offenbar gefährlich. Tokio Hotel, die auch nicht eben groß gewachsenen Popstars, lassen sich wegen des Andrangs Zeit mit ihrem Auftritt.

Der Konzertgänger reiht sich ein in den Kranz geduldeter Erwachsener, der sich um die junge Meute bildet. Sie sind hilflos, darüber wird auch das vorsichtige Mitschwofen später am Abend nicht hinwegtäuschen können. Mädchen zwischen Acht und Vierzehn haben hier alles im Griff. Sie haben sich „Tom“ oder „Bill“ auf die Stirn geschrieben, halten „Tokio“-Plakate in die Luft, deren Rückseite „SpongeBob Schwammkopf“ ziert, und sie debattieren hitzig, ob man vom Balkon nicht doch besser hätte sehen können. Sie haben sich herausgeputzt. Ein Mädchen reißt unvermittelt ihre schwarze Daunenjacke auf, darunter ein enges Oberteil. Sie trägt es heute zum ersten Mal.

Was für eine Hingabe. Und egal, wen man nach dem Grund fragt an diesem Abend, die Antwort ist stets dieselbe. Es sind die Texte. Texte des Übergangs, über das Nichtverstandenwerden und das Nichteinverstandensein. Damit sprechen Tokio Hotel einem Publikum aus der Seele, das genug hat von Castingbands und von „Dam dam dubi dam“. Seit die Single „Monsun“ im Sommer über mehrere Wochen hinweg die Charts anführte, hat sich eine Hysterie aufgebaut, wie man sie schon eine ganze Weile nicht mehr erlebt hat. Ihr Magdeburger Gymnasium mussten die vier Jungs verlassen, weil die Fan-Belagerungen den Schulbetrieb gefährdeten. Noch an diesem Abend werden sie für ihr „Schrei“-Album Platin überreicht bekommen.

Als halbwegs Ausgewachsener hat man noch aus der hintersten Reihe eine gute Sicht auf das, was sich bei Tokio Hotel auf der Bühne abspielt. Plötzlich aber werden die Zaungäste mitgerissen von einer dieser Kleingruppen, die „alle an den Händen fassen!" rufen, es auch tun und mitten hinein ins hingebungsvolle Treiben stürzen. Wenn das Magdeburger Quartett „Schrei“, „Monsun“ und „Freunde bleiben“ vorträgt, hundertfach mitgesungen von selbstvergessenen jungen Kehlen, denkt man, dass mit diesen Menschen, jetzt und hier, die Welt aus den Angeln gehoben werden könnte. Hin und wieder fährt zwar eine Mutter mit einem strengen „Moment mal bitte!“ durch die aufgewühlte Menge, aber das sind Rettungsbojen, die man passieren lässt. „Seid ihr gern allein!?“, fragt der Sänger sein Publikum. Und dann singt er noch: „Rette mich!“ Verloren sind hier nur Erwachsene.

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