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Helga M. Novak: Die Wutbürgerin

Aus der DDR ausgewiesen und dort nie gedruckt, geht die Dichterin Helga M. Novak 1966 in den Westen. Trotzdem empfindet sie das sozialistische Deutschland weiter als "mein Land". Mit dem Band "Im Schwanenhals" schließt sie nun ihre Autobiografie ab.

Als Helga M. Novaks Erstling verzeichnen Literaturlexika den Gedichtband „Ballade von der reisenden Anna“, 1965 erschienen bei Luchterhand in Neuwied. Ein Debüt in diesem Verlag war damals – neun Jahre nach dem dortigen Debüt von Günter Grass – ein Entreebillett in die Literatur der Bundesrepublik, insbesondere die Gruppe 47, wo Helga Novak Hans Werner Richter allerdings mit der Behauptung irritierte, „die Kulaken seien von Stalin zu Recht umgebracht worden. Auf ein paar Millionen mehr oder weniger kam es ihr dabei nicht an.“ (Richters Tagebuch 25.4.68)

War das dieselbe Helga M. Novak, die 1958 aus der DDR nach Island geflohen war, nachdem sie als Journalistikstudentin in Leipzig exmatrikuliert und zur „Bewährung in der Produktion“ verdonnert worden war, weil sie die geforderte Selbstkritik verweigerte? Und die in ihrer 1958 entstandenen „Ballade von der reisenden Anna“ einem Opfer von Stalins Großem Terror Stimme verleiht?

Sie war es. Dieselbe, die in Island vor lauter Heimweh wieder täglich das „Neue Deutschland“ las und ihrer Freundin in Leipzig bekannte: „Trotz alledem wäre ich jetzt glücklicher mit Euch in der Braunkohle als hier auf der Insel.“ Die schon im gleichen Jahr 1958 mit einem isländischen Pass freiwillig – und schwanger mit ihrem Sohn Alexander – in die DDR zurückkehrte, um nach ihrer „Bewährung“ als Fabrikarbeiterin in Ostberlin und neuen Reisen nach Island und Italien wieder ein Studium in Leipzig zu beginnen, diesmal am Literaturinstitut Johannes R. Becher.

Doch schon 1966 wurde sie ein zweites Mal exmatrikuliert und aus der DDR ausgewiesen, ein schwebendes Projekt mit dem Reclam Verlag abgebrochen. Während ihr die „Ballade von der reisenden Anna“ alle Türen des westdeutschen Literaturbetriebs öffnete, wurde in der DDR nie ein Buch von ihr gedruckt. Weder das Schriftstellerlexikon der DDR noch die offiziöse Literaturgeschichte erwähnten auch nur ihren Namen.

Als Studentin wurde sie Mitglied der SED und von der Stasi erpresst

Es ist trotzdem kein schlechter Witz, sondern eine passende Pointe, dass ihr eigentlicher erster Gedichtband, den sie auf eigene Kosten 1963 in Island drucken ließ, den Titel „ostdeutsch“ trug. In Köpenick geboren und in Erkner aufgewachsen, hat Helga Novak die DDR stets als „mein Land“ empfunden, das ihr Leben prägte. Davon zeugten schon die ersten zwei Bände ihrer Autobiografie, „Die Eisheiligen“ (1979) und „Vogel federlos“ (1982). In einer linientreuen Pflegefamilie und einem staatlichen Internat erzogen, war sie bereits als Schülerin Gruppensekretärin der FDJ.

Als Studentin wurde sie Mitglied der SED und von der Stasi als „Kontaktperson Renate“ erpresst, bis sie aufbegehrte und aus der Partei und vom Studium ausgeschlossen wurde. Ihre erste Liebe war der lettische DDR-Schriftsteller Boris Djacenko, ihre letzte in der DDR Robert Havemann. Er habe sie, schrieb sie damals, „so auf Trab gebracht, dass ich wieder 1. optimistisch bin, 2. dass ich mehr als je zuvor gegen den Staatsapparat und den großen WU opponiere“. Gemeint war Walter Ulbricht.

Trotzdem zeigt sie sich nun im dritten Band ihrer Autobiografie „Im Schwanenhals“ mit ihren DDR-Quälgeistern nachsichtig. Selbst die Arbeit in der Produktion mit einer Frauenbrigade am Fließband habe sie widerstandsfähiger – und „endgültig schwererziehbar“ gemacht.

Ihre Exmatrikulation in Leipzig nennt sie heute „einen brutalen Befreiungsschlag“, denn „nach dieser Attacke konnte ich langsam das rauslassen, was in mir steckte. Ich wurde ungebunden, unbeherrscht, unwillig, ungläubig, unhöflich, unzuverlässig, unverblümt, unzugehörig, unverantwortlich, ungehorsam, ungenießbar, unverbesserlich, undiszipliniert, ungezügelt, unberechenbar usw.“ Dieser Ruf ist ihr geblieben, auch in der Bundesrepublik, wo sie sich 1968, im Frankfurter Häuserkampf, als „Anarchosyndikalistin“ bekannte. War sie stolz auf diesen Ruf? Ende der achtziger Jahre zog es sie in das Polen der Solidarnosc, von wo sie sich 1997 als Lyrikerin mit bukolischen Gedichten („Silvatica“) unter dem Motto „Verwildertsein“ zurückmeldete. 2005 folgten noch einmal politische Gedichte mit dem sprechenden Titel „Aus Wut“ (2005), bevor sie sich an den längst versprochenen Schlussband ihrer Autobiografie machte, den sie, krankheitsbedingt mit Hilfe ihrer langjährigen Freundin Rita Jorek und mit Rückgriffen auf alte Tagebücher und Korrespondenzen, erst jetzt abschließen konnte. Dass ihre Heimatstadt Erkner, wo sie seit einiger Zeit wieder lebt, die bekennende Wutbürgerin 2012 zur Ehrenbürgerin machte, klingt da wie ein Witz – aber ein guter.

Denn trotz Stasi, Exmatrikulation (1994 widerrufen) und Ausbürgerung durch die DDR bekennt sie sich zu ihrer ostdeutschen Biografie. Zwar habe die Staatssicherheit ihre erpresste Anwerbung als Freibrief benutzt, „um mich in eine Art Leibeigenschaft zu überführen. Ein Leben lang.“ Aber gerade deshalb habe sie sich in Gedichten, Erzählungen und fast 30 Hörspielen mit Spitzelbiografien auseinandergesetzt – „und setze sie wieder zusammen, ohne undifferenzierte, pauschale Urteile zu fällen.“

Heimlich besuchte sie Robert Havemann zu dessen 70. Geburtstag

Sie könne und wolle nicht Richterin sein, denn „ich bin Schriftstellerin und weiß zu wenig und weiß zu viel über Schuld und Schuldigkeit.“ Indem sie sich selbst geoffenbart und auch von ihrer Angst um öffentlich vorgeführte Stasispitzel wie Sascha Anderson gesprochen habe, habe sie sich sogar „ihrer besten Freunde beraubt“.

Das ist mit Sicherheit übertrieben wie ihre Selbststilisierung als im vereinten Deutschland heimatlose und „erwerbslose Ausländerin ohne festen Wohnsitz“, die „jederzeit ausgewiesen und abtransportiert“ werden könne. Das Bäumchen-wechsel-dich-Spiel mit ihrem DDR-deutschen, bundesdeutschen und isländischen Pass hat sie nicht nur mitgespielt und bei Bedarf genutzt, zum Beispiel, um als Ausgebürgerte heimlich wieder Freunde in der DDR und Robert Havemann zu dessen 70. Geburtstag zu besuchen. Freunde im Westen haben ihr bei bundesdeutschen Behörden Wege gebahnt, Bundespräsident Rau sich um ihre ärztliche Behandlung bemüht. Ein gutes Dutzend (bundes-)deutsche Literaturpreise hat sie erhalten, das Deutsche Literaturarchiv Marbach erwarb ihren „Vorlass“. Ihr getreuer Verlag Schöffling veröffentlicht Band um Band ihrer gesammelten Gedichte und nun auch die Autobiografie. Glaubt die Ehrenbürgerin von Erkner wirklich und noch immer, sie könne „ausgewiesen und abtransportiert“ werden? Sie kann es nicht, aber sie fühlt sich – mit der Überschrift ihres vorletzten Kapitels – „wund gestoßen“ und schließt das letzte mit einem 1990/91 geschriebenen Gedicht „Porträt einer Angst“.

Wenn das ihr letztes Wort ist, wird sie von ihr noch immer verfolgt. Der scheinbar poetische Titel spielt darauf an: Schwanenhals nannten chinesische Einwanderer ihr System von Mauerdurchbrüchen und geheimen Fluchttunneln im Untergrund von San Francisco. Doch Schwanenhals oder Berliner Eisen sei auch der Name einer Marderfalle, die man ihr einmal gezeigt habe. Daraus zu fliehen sei „übrigens nicht möglich“.

Helga M. Novak: Im Schwanenhals. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt a.M. 2013. 348 S., 19,95 €

Hannes Schwenger

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