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Kultur: Hellmuth Costard: Alle Macht der Kamera - Werner Nekes zum Tod des Experimentalfilmers

Mit seinem Kurzfilm "Warum hast du mich wachgeküßt?" aus dem Jahre 1967 schuf Hellmuth Costard ein unvergleichlich schönes Meisterwerk, dessen schwarzer Humor zur Triebfeder und zum Manifest für viele seiner folgenden Arbeiten wurde.

Mit seinem Kurzfilm "Warum hast du mich wachgeküßt?" aus dem Jahre 1967 schuf Hellmuth Costard ein unvergleichlich schönes Meisterwerk, dessen schwarzer Humor zur Triebfeder und zum Manifest für viele seiner folgenden Arbeiten wurde. Ein technisch perfekter 35mm-Hollywoodvorspann mit sich brechenden Meereswellen und erwartungsgeschwängerter Orchestermusik eröffnet den Film. Dann wird der Blick des Zuschauers durch ein Zimmer getragen. In einem Spiegel sieht man für einen Moment ein nacktes Mädchen, das die aufnehmende subjektive Kamera unter ihrem Arm hält, sie zieht eine Schublade auf, legt die Kamera hinein und verschließt die Schublade. Der Blick des Zuschauers und somit der Zuschauer selbst ist gefangen in der Dunkelheit. Im Off reflektiert ein Filmkritiker. Dazu benötigt der ganze Film nur 3 Minuten. Würde danach jemand im Kino es wagen, das Licht anzumachen, wäre die Illusion des unendlichen Spielfilms zerstört.

Unerbittlich zündete Costard in den vergangenen 30 Jahren den Lichtstrahl des Filmprojektors, spielte mit den Erwartungen des Zuschauers und verwandelte das Sehen in erkenntnisreiches Vergnügen. In "Die Unterdrückung der Frau ist vor allem an dem Verhalten der Frauen selbst zu erkennen" spielt der männliche Darsteller die Rolle einer Hausfrau. Der dokumentarische Blick auf die alltäglichen Hausarbeiten verwischt das Verstehen von Realität und Fiktion. Das Glatteis, auf das der Zuschauer geführt wird, lenkt den Blick von der angeblichen Hauptsache auf das vermeintlich Nebensächliche und macht dieses zur bedeutenden Hauptsache.

Die kritische Intelligenz in Europa war begeistert von solch einem Kino, das sich nicht nur an die Sinne, sondern auch an den Kopf wendet. Mit den Ausdrucksmitteln des experimentellen und auch strukturellen Films formten sich Filmmacher-Kooperativen, die im Selbstverleih gegen den Schwachsinn des kommerziellen Kinos aufbegehrten. Costard wurde zum Mitbegründer des "Anderen Kinos", der Hamburger Filmmacher Cooperative und dem Filmfestival des anderen Blicks, der "Hamburger Filmschau". Diese Organisationsformen waren bis in die achtziger Jahre ein wesentliches Artikulationsforum der deutschen Filmgeschichte.

Nachlassendes Medieninteresse, der Verlust der Filmkritik, ein ängstliches Publikum, das auf die Trampelpfade der Medienindustrie gelenkt wurde und der von der Filmpolitik eingeforderte Zwang zur Kommerzialisierung machten es den Erneuerern der Sehgewohnheiten zunehmend schwer, für die Freiheit ihrer Ausdrucksmöglichkeiten zu kämpfen. Nur wenige konnten sich als Einzelkämpfer durchschlagen und ihre Filmarbeit fortsetzen. Costards Filmtitel "Und niemand in Hollywood der versteht, dass schon zu viele Gehirne umgedreht wurden" ist programmatisch für alle, die unter Film Kultur und nicht nur Wirtschaft verstehen.

Manche seiner filmtechnischen Visionen hat Costard noch erleben dürfen: "Alle Macht der synchronen Super 8"! Die kleinen Digi-Kameras können es. Spielfilme dokumentarisch drehen! Warum konnte "Big Brother" nicht von Costard produziert werden? Es wäre ein "Anderer Film" geworden.

Viel seiner Kraft steckte er in den letzten Jahren in seine "Sun-Machine", einen Hohlspiegel für die mobile Energiegewinnung aus dem Sonnenlicht. Costard entdeckte leere Getränkedosen als idealen Träger für den Hohlspiegel und senkte somit das Gewicht des lichtsammelnden Trägers um ein bisher nicht vorstellbares Vielfaches. Das Deutsche Patentamt gewährte ihm hierfür das Patent. Voller Ideen und in der Vorbereitung neuer Filme erlag Hellmuth Costard unerwartet seinem Krebsleiden.

Eine Grabmusik, wie er sie realisiert hat und wie wir sie uns wünschen, wäre die Ausstrahlung seines Films "Fußball wie noch nie". Sechs Kameras filmen das Spiel Manchester United gegen Coventry City, in gesamter Länge. Alle sechs Kameras zeigen jedoch nur den Spieler George Best. Gelegentlich ist er am Ball.

Hellmuth, wie wir ihn lieben, war immer am Ball.

Der Autor ist selbst Experimentalfilmer, Protag

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