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Der Schriftsteller Helmut Lethen.

© dpa

Helmut Lethen gewinnt Leipziger Sachbuchpreises: Durchstich in die Wirklichkeit

Helmut Lethen erhielt den Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse. In „Der Schatten des Fotografen“ macht er sich Gedanken über den Wahrheitsgehalt von Bildern.

Schon der Umschlag bietet eine starke medienkritische Pointe. Er zeigt die in Helmut Lethens Essayband „Der Schatten des Fotografen“ besprochene Schwarz-Weiß-Aufnahme einer Frau, die mit gerafftem Rock durch einen Fluss im Sonnenlicht watet; fast eine bukolische Stilisierung. Das Foto wurde in Sammlungen von Soldaten des Zweiten Weltkriegs gefunden und wollte so gar nicht zu den sonstigen Bildern passen. Auf der Rückseite steht indes geschrieben: „Die Minenprobe“. Die Frau wurde von den Deutschen als lebendes Minensuchgerät eingesetzt. Womöglich wollte der Fotograf den Moment der Explosion erwischen. Hier liegt die Lektion: Das Foto selbst ist ein Irrweg; der (Kon-)Text ist der Navigator.

Viele Menschen begegnen den Medien heute mit Skepsis. Ist das, was gezeigt wird, nicht bloß eine manipulierte Form von Wirklichkeit? Das ist die volkstümliche Form des medienwissenschaftlichen Credos, nach dem es „Wirklichkeit“ sowieso nur in dicken Anführungsstrichen gibt und die „Außenwelt von Zeichen der Sprache und der Bilder und der Prägekraft wissenschaftlicher Diskurse nicht nur vermittelt, sondern sogar regelrecht konstruiert wird“. Es ist eine akademische Pflichtübung, diese „Konstruiertheit“ von allem und jedem (auch der Geschlechter) nachzuweisen. Wer dabei nicht folgt, begeht die Sünden des „Essenzialismus“ oder der „Ontologisierung“, sieht etwas als „seiend“, was doch semiotisch-diskursiv vermittelt sei.

Helmut Lethen, Jahrgang 1939, gehört zu den einflussreichsten Literaturwissenschaftlern seiner Generation. Seine Schrift über „Verhaltenslehren der Kälte“ (1994), in der es um die Zeit zwischen den Weltkriegen geht, machte Furore. Beachtung fand auch „Der Sound der Väter“ über Gottfried Benn. Sein jetzt mit dem Leipziger Sachbuchpreis ausgezeichneter Essayband skizziert die bedrängte Lage des „Wirklichen“, um im Folgenden zaghafte Ausbruchsversuche aus dem Terrain des Konstruktivismus zu unternehmen. Gibt es womöglich doch die von Siegfried Kracauer beschworenen „Einbruchsstellen“ des Wirklichen in Filmen? Könnten Fotos auch mal die „Wirklichkeit“ zeigen? Ist so etwas wie „Präsenz“ im Medienkonsum erfahrbar? Wo liegen die Grenzen der kulturellen Grammatik?

Mit Siegfried Kracauer und Roland Barthes gelangte Lethen zu neuen Ufern

Solche Fragen ventiliert das Buch, und man bekommt dabei viele nicht mehr so angesagte Floskeln zu kauen („das Schicksal der Präsenz in der Ironiemaschine“). Manche dieser Probleme mögen jenseits der Kulturwissenschaften merkwürdig erscheinen. Etwa, ob Schmerz lediglich als „Stoff kultureller Archive“ existiere. Lethen hält dagegen: Wer starken Schmerz empfinde, falle aus der Sphäre der „symbolischen Praktiken“, denn der Schmerzerfüllte kann sich nur noch in einem „erstaunlich stereotypen Arsenal sprachlicher Wendungen“ artikulieren: Stöhnen, Brüllen. Kurz: Schmerz könnte etwas mit „realen Empfindungen“ zu tun haben.

Nach Markierung des akademischen Reviers mittels Boris Groys, Marshall McLuhan und Benjamin Lee Whorfs Sprachtheorie, wonach „jede Erfahrung sprachlich vermittelt sei“ (eine inzwischen ziemlich zerlegte Theorie), rekapituliert Lethen den eigenen Bildungsroman. Maoismus und Marxismus in den 70ern, dann die Hinwendung zu Strukturalismus und Semiotik. Kaum erstaunlich, dass der Autor in diesen Passagen zum „Wir“-Ton des 68er-Veteranen wechselt: „Es ging uns mit Benjamins Worten darum, den Traditionswert des Kulturerbes zu liquidieren.“ Das klingt manchmal sehr nach Besinnungsprosa für die eigene Kohorte.

Mit Kracauer und Roland Barthes gelangte Lethen zu neuen Ufern. Auch wenn er immer wieder Relativierungen vornehmen muss. Dass Kracauer den Filmen des italienischen Neorealismus wie Vittorio De Sicas „Fahrraddieben“ ein Bild des Nachkriegsitalien ablesen wollte – ein Fauxpas, wenn man bedenke, dass nur 0,4 Prozent der damaligen italienischen Filmproduktion überhaupt dem Neorealismus zuzurechnen waren. Eine „flächendeckende Mentalität“ lasse sich da nicht herauslesen.

Bedeutung entsteht erst im Kontext.

Katalogisierung einer Ikone. Robert Capas berühmtes Foto von der Landung der Alliierten in der Normandie im Juni 1944, ausgestellt in Mailand 2006.
Katalogisierung einer Ikone. Robert Capas berühmtes Foto von der Landung der Alliierten in der Normandie im Juni 1944, ausgestellt in Mailand 2006.

© AFP/Filippo Monteforte

Höhepunkte sind jene Kapitel, die sich konkreten Bildern widmen, etwa dem D-Day-Foto von Robert Capa, das gerade wegen seiner mangelnden Perfektion so authentisch wirkt: Das Bild des amerikanischen Soldaten in der Brandung ist verwischt, was Dynamik vermittelt und die „immense Erregung des Augenblicks“ wiederzugeben scheint. In Wahrheit hatte ein Labortechniker in London den Film überhitzt und dadurch beschädigt. Das Foto vermittelt nicht die Hektik der Schlacht, sondern die Hektik in der Dunkelkammer, so Lethen.

Kommt dabei die Macht der Apparaturen zur Geltung, so wird an anderen Fotografien, die wie Dokumente wirken, die Kunst der Inszenierung deutlich, nirgendwo mehr als bei Dorothea Langes „Migrant Mother“, dem berühmtesten Foto aus der Zeit der Großen Depression. Dass das genialisch komponierte („konstruierte“) Porträt einer Frau namens Florence Owens Thompson mit ihren zwei abgewandten Kindern mehr als ein sozialkritischer Schnappschuss ist, fällt Lethen nicht schwer zu begründen. Eine Pointe liegt im abwesenden Vater. Das Bild der Madonna des Elends schreit geradezu nach dem Mann, der sich kümmert (der reparierte gerade das Auto der Fotografin). Nach der Suggestion des Bildes soll es fortan Vater Staat sein.

Bedeutung entsteht erst im Kontext - das Bild an sich beweist nichts

Das Foto wurde als Legitimation des New Deal begriffen, John Steinbeck hatte es vor Augen, als er „Früchte des Zorns“ schrieb, und die Verfilmung des Romans orientierte sich wiederum am Foto. So zog die „Evidenzspirale“ immer weitere Kreise, kuriose Deutungen lagerten sich an, wonach Thompson die typische Amerikanerin „nordischen Typs“ sei. Tatsächlich stammte sie von Cherokee-Indianern ab. Auch wenn diese Details nicht neu sind: Spannend rekonstruiert Lethen die Fabrikation einer Ikone.

Ein Kapitel beschäftigt sich mit der Wehrmachtsausstellung. Einige Aufnahmen zeigten in Wahrheit Leichen von Menschen, die der sowjetische NKWD ermordet hatte. Lethen bezeichnet die Fotos als „Evidenzmaschinen, die fälschlich suggerieren, einen Durchblick auf Phänomene zu garantieren, den sie nur auf der Gundlage soliden Hintergrundwissens über das Verbrechen gewähren können.“ Man kann einwenden, dass diese Fotos nichts „fälschlich suggeriert“ haben; sie zeigen, was sie zeigen. Das Problem ist gar keines „optischer Ambivalenzen“, es liegt überhaupt nicht auf der Ebene zwischen Bild und Wirklichkeit, sondern auf der zwischen Fotos und Betrachtern, die sie nicht richtig einordneten.

Die Form des Buches ist offen und selbstreflexiv – und auch disparat und beliebig. Viel Zweitverwertetes ist darin: umständliche Berichte über Ausstellungen, bei denen über Gebühr die Kataloge zitiert werden. Das Autobiografische bleibt sporadisch. Das Buch hat etwas von der Plauderei eines Geisteswissenschaftlers, der sich nach der Emeritierung weiter mit seinen Lieblingsthemen beschäftigt, dabei aber locker macht. Eine „Schule des Sehens“ wird hier nicht geboten, eher eine medienwissenschaftliche Schulung mit Unterhaltungswert.

Und das Foto der Frau im Fluss? Ist es unzuverlässig? Eine Lüge? Keineswegs, der Tag war wirklich sonnig, die Frau watete wirklich durch den Fluss, und sobald man den Kontext kennt, kommt der Realitätsgehalt mit erschütternder Wucht über den Betrachter. Es ist keine Simulation und keine „Konstruktion“, sondern ein Durchstich in die Wirklichkeit. Von einem „Scheitern“ der Fotografie ohne „textuelle Rahmung“ kann deshalb nur im überpointierten Sinn die Rede sein.

Helmut Lethen: Der Schatten des Fotografen. Bilder und ihre Wirklichkeit. Rowohlt Berlin, 2014. 272 Seiten, 19,95 €.

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