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Kultur: Her mit den kleinen Illusionen

Judith Kuckarts Erzählungen verabschieden sich vom großen Glück

Alle ihre Bücher erzählen von der Liebe. Eine friedvolle Himmelsmacht ist diese Liebe bei Judith Kuckart aber nicht. Eher ein dunkler Trieb, selbstsüchtig sehnsüchtig, eilig und undankbar. Und unheimlich. Diese Liebe führt hinab in Abgründe, von denen die Liebenden nichts wissen und auch nichts wissen wollen. In ihrem neuen Erzählungsband „Die Autorenwitwe“ betrachtet eine junge Frau befremdet die Fotos, die ihr neuer, sehr zufälliger Liebhaber von mehr als 100 Frauen in Dessous angefertigt hat – und lässt sich doch bald darauf von ihm fotografieren: in Reizwäsche. Warum auch nicht? So recht trauen die fünf Frauen und der eine Mann in den sechs Erzählungen ihrem Glück nicht mehr, aber irgendeines ist besser als keines. Olga Stosskopf zum Beispiel weiß, dass ihr Mann, der Schriftsteller Oskar, „wildern“ geht, wenn ihm die Schreibtischplatte aufs Geschlecht drückt. Sie hat sich für „stures Weiterlieben“ entschieden und tritt in der Titelerzählung das Rheinsberger Stipendium ihres Mannes an. Er sei, so sagt sie, verhindert. Olga gibt für Oskar Interviews, lässt sich an seiner Stelle fotografieren, sie liest öffentlich aus seinem Buch.

Witwen sind alle Figuren Kuckarts, Witwen des Glücks. Nun erwarten sie nicht mehr alles vom Leben, lassen sich aber gern eine Zeit lang täuschen. „Das ist ein Fehler, aber einer mit Hoffnung.“ Sonst droht ja auch das schwarze Nichts. Also nehmen sie, was sie kriegen können. Sieht so Selbstbetrug aus? Nur ein klein wenig. Die 40-jährige Lehrerin Friederike Brion etwa benennt die Eigenschaften ihres 15 Jahre jüngeren Liebhabers Clemens gleich „am ersten Abend, um sich später darum nicht mehr kümmern zu müssen“: Weg mit den großen Illusionen - damit ihnen kleinere folgen können.

Etwas ist zerbrochen in diesen Menschen, und Judith Kuckarts Erzählungen springen zwischen den Trümmern umher und errichten daraus in einer lakonischen Sprache ein einfaches Gebäude. Denn die erste, umfassende Desillusion befreit ihre Figuren nicht, wie manche Philosophen behaupten. Die Sehnsucht besteht ja fort, die „Sehnsucht nach Momenten“, wie es in Kuckarts Roman „Lenas Liebe“ heißt, „die nie geschehen sind.“ Daher richten sich die Sehnsüchtigen ein im Zugigen. Finden das Lauwarme zeitweise ganz angenehm. Verspüren Nähe in der Distanz: „Mir gefällt, dass er mir eigentlich nicht richtig gefällt und ich ihn trotzdem gern anschaue. Wir passen ganz gut zusammen. Zwei, die gern hinschauen und nicht unbedingt mögen, was sie sehen.“

Dieses sehr moderne relative Liebesglück hat oft den Selbstverlust zur Folge. Die junge Frau, die ihren Liebhaber nach Wochen immer noch nicht kennt, sich aber von ihm in Reizwäsche hat fotografieren lassen, fasst sich am Ende ins Gesicht, um festzustellen, „ob ich noch da bin“. In der Erzählung „Maria mit Selbstauslöser“ kann der Erzähler die „Anfälle von Glück“ seiner geliebten Maria nicht teilen, dokumentiert sie aber mit dem Fotoapparat und schummelt sich dank des Selbstauslösers immer mit ins Bild.

Die Vertreibung aus dem Glück ist endgültig, und nur wer sich damit abfindet, bleibt am Leben. Die „Dorfschönheit“ Friederike Brion aus Sesenheim zahlt ihren Preis für unzureichende Desillusion. Einst liebte sie einen Dichter, der 15 Jahre älter als sie war und nicht Goethe, sondern Wendisch hieß. Auch dieser verschwand eines Tages Richtung Frankfurt am Main, um dort berühmt zu werden. 15 Jahre später lädt er Friederike zu einer Lesung in Straßburg ein, wo es der Lehrerin mit einiger Mühe gelingt, sich endlich zu entlieben. Doch ihr junger Liebhaber ist vom Auftauchen des Konkurrenten so verunsichert, dass er mit Friederikes schönster Schülerin ins Kino geht. Beunruhigt setzt sich die Lehrerin an das offene Fenster, schläft ein und stürzt in die Tiefe.

Judith Kuckart: Die Autorenwitwe. Erzählungen. DuMont, Köln 2003. 180 S., 17,90 Euro. Die Autorin stellt den Band zusammen mit ihrer Kollegin Angelika Klüssendorf morgen um 20 Uhr in der Berliner Literaturwerkstatt vor. Es moderiert Tagesspiegel-Redakteur Gregor Dotzauer.

Jörg Plath

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