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Eine Frau steht am 10.11.2017 in Berlin während des Presserundgangs zum 3. Berliner Herbstsalon des Maxim Gorki Theaters im Kronprinzenpalais vor der Installation "Andere Menschen Denken" von Alfredo Jaar.

© Sören Stache/dpa

Herbstsalon im Maxim Gorki: Das Dröhnen der Gegenwart

Widerstand und Recht und Freiheit: Der 3. Berliner Herbstsalon des Maxim Gorki Theaters entfaltet wilde Energie

Behaupte niemand, Demonstrieren sei keine Kunst. In gemessenem Tempo schreitet die Prozession Unter den Linden voran, Protestslogans eines feministischen Empowerments auf den Lippen, „Kein Gott, kein Staat, kein Patriarchat!“ Das Equipment der Teilnehmerinnen reicht allerdings über den üblichen Demo-Bedarf hinaus. Ihre Plakate sind wie Quilts aus verschiedenen Versatzstücken komponiert, gewandet sind die Frauen in die Gewänder amerikanischer Suffragetten, jener Vorkämpferinnen, die Anfang des 20. Jahrhunderts für das Frauenwahlrecht stritten. „No Borders! No Nations! Desintegration!“ schallt es über den Boulevard.

„Desintegriert euch!“ So ist der Herbstsalon des Maxim Gorki Theaters überschrieben, der bereits in dritter Ausgabe stattfindet und längst im Rang einer Berlin-Biennale steht. Gezeigt werden eben nicht nur Performances aus dem Artivism-Genre – wie Lara Schnitgers eröffnende Anti-Sexismus-Aktion „Suffragette City“ –, sondern rund 60 Werke von Künstlerinnen und Künstlern verschiedener Richtungen, die das Theater selbst, das angrenzende Palais am Festungsgraben sowie das Kronprinzenpalais in Beschlag nehmen.
Der Aufruf zur Desintegration bezieht sich dabei vor allem auf die erstarkenden nationalistischen Narrative, die gegenwärtig mehr denn je die Frage aufwerfen, in was bitteschön sich Neubürger in Deutschland integrieren sollen? Es braucht neue Allianzen. Welcher herkömmliche Begriff von Identität böte denn Anschluss?

Sicher nicht die geistige Eichenfurnier-Welt von Leuten, die sich „Reichsbürger“ nennen und die Ansicht vertreten, die Bundesrepublik sei als souveräner Staat nicht existent. Ihre krude Ideologie hat die Künstlerin Henrike Naumann in die Installation „Das Reich“ übersetzt, die im Bankettsaal des Kronprinzenpalais zu sehen ist. Dort also, wo 1990 der Einigungsvertrag zwischen der BRD und der DDR unterzeichnet wurde. Ein Stonehenge aus Schrankwänden ist hier entstanden, vollgestellt mit Artefakten aus dem ultrarechten Paralleluniversum. Darunter ein Glastisch mit einer Platte in Deutschlandform, die das vierte Bein freilässt. Die Ostgebiete fehlen noch...

„Die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen“, sagt Hakan Savas Mican

Im Treppenaufgang des Gebäudes – auf dessen Fassade als Leihgabe Bert Neumanns Volksbühnen-Schriftzug „Ost“ neu verortet leuchtet - hat sich der Künstler Norbert Bisky ebenfalls mit der unmittelbaren Geschichte des Hauses auseinander gesetzt. Hier liegt eine zertrümmerte, angesengte Kopie des Gemäldes „Der Turm der blauen Pferde“ von Franz Marc, das als Original 1913 im Rahmen des „Deutschen Herbstsalons“ ausgestellt wurde, auf den das Gorki sich bezieht. Marcs Gemälde war Teil der Sammlung von Ludwig Justis „Galerie der Lebenden“, dem ersten Museum für zeitgenössische Kunst, das in den Räumen des Kronprinzenpalais Quartier fand. Bis 1936 ein Großteil der Werke in die Nazi-Ausstellung „Entartete Kunst“ in München gezwungen wurde. Historische Echos und Referenzen überall.

Einen nicht weniger politischen, aber eben auch radikal persönlichen Kunstraum hat der Theater- und Filmemacher Hakan Savas Mican im Palais am Festungsgraben eingerichtet. „Souvenirs“ heißt seine Installation aus Objekten und Video, es ist ein bestürmendes Museum der Unschuld. Der Boden ist übersät mit Tellern, Schüsseln, Osterhasen aus Porzellan. Im Film durchstöbert Micans Mutter eben diesen Hausrat und erinnert sich. In den 70ern kam sie als Arbeitsmigrantin nach Deutschland, heute lebt sie wieder in der Türkei. Sie hat es nie geschafft, ihre Besitztümer aus einem Berliner Keller zu holen, aber sie bedeuten ihr auch nichts mehr. „Die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen“, sagt sie. Die verpassten Tage mit den Kindern, die damals bei den Großeltern blieben, gibt ihr niemand zurück.

Der Herbstsalon ist ein komplexer, radikaler Parcours der Entdeckungen

Ein ungleich martialischeres Bild eröffnet sich im Marmorsaal des Hauses. Hier hängen ottomanische Krummsäbel, republikanische Armee-Schwerter und Spielzeugwaffen von der Decke. Über einem mit Blut gefüllten Bassin mit Hähnen an der Seite, wie sie für Waschungen vor dem Gebet genutzt werden. "The School of Sikidem A?agi Kasimpa?a" heißt diese Arbeit von Hale Tenger, die türkische Redewendung bedeutet so viel wie: "Ist mir scheißegal". Das Werk stammt aus den frühen 90ern, ist aber mit seinen Bezügen auf gewalttätige Verwerfungen in der Türkei und den angrenzenden Regionen leider drängend aktuell. Dass für diese Installation der große Kronleuchter im Marmorsaal abgenommen werden musste, wo die Shakespeares und Tschechows weise von der Decke lächeln, darf als Kommentar zur Weltlage mitgelesen werden. Die abendländische Erleuchtung bleibt mal wieder aus.

Ein paar Räume weiter trifft einen die Gewalt neuerlich mit Wucht. Die Videoinstallation „4. Halbzeit“ von Mattias Wermke und Mischa Leinkauf schneidet auf zwei gigantischen LED-Bildschirmen Aufnahmen aus dem Fußballstadion und von Demonstrationen gegeneinander. Während der Gezi-Proteste waren es Ultras der sonst verfeindeten Fußballclubs Besiktas, Fenerbahce und Galatasaray, die nicht nur ihre Choreographien, sondern auch ihr Knowhow im Umgang mit Polizeizugriffen auf die Straße trugen und eine neue Ebene von Widerstand schufen.

Dieser 3. Berliner Herbstsalon" von Gorki-Intendantin Shermin Langhoff und ihrem Kuratoren-Team ist ein komplexer, radikaler Parcours der Entdeckungen und zweifellos die bisher stärkste Ausgabe. Nicht zuletzt, weil hier mit allen Sinnen erfahrbar wird, was es heißt, Vielfalt auszuhalten. Der Künstler Santiago Serra hat dazu die Nationalhymnen aller 27 Staaten der EU übereinander gelegt. Klingt nach einer großartigen Zukunft.
Bis 26. November, Mo - Fr: 16 - 23 Uhr, Sa - So: 13 - 23 Uhr, Eintritt frei

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