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Kultur: Hergé, Tim und Struppi: Er trägt Nagelschuhe! Aber ich hab bald keine Pfoten mehr!

Einer der wagemutigsten Helden des 20. Jahrhunderts erblickte ausgerechnet auf einem preußischen Acker unweit der Bahnstrecke Brüssel-Moskau das Licht der Welt.

Einer der wagemutigsten Helden des 20. Jahrhunderts erblickte ausgerechnet auf einem preußischen Acker unweit der Bahnstrecke Brüssel-Moskau das Licht der Welt. Der Reporter, den die Zeitung "Le XXe Siècle" ausgesandt hatte, über die Ereignisse in der Sowjetunion zu berichten, war gleich nach Antritt der Zugreise in das Bombenattentat eines Anarchisten geraten. Nur durch den beherzten Sprung von einem Baum in einen Sportwagen wusste er sich vor dem Zugriff der deutschen Polizei zu retten. Unten angekommen, trieb der Fahrtwind seine Tolle in die Höhe. Dort blieb sie für ein halbes Jahrhundert stehen, denn die Abenteuer, die dieser Teufelskerl fortan erleben sollte, waren tatsächlich haarsträubend. Man schrieb den 31. Januar 1929, die Fortsetzungsgeschichte "Im Lande der Sowjets" hatte gerade ihre vierte Lieferung erreicht: Tim, Inbegriff des rasenden Reporters, war geboren. Und sein treuer Begleiter, der Foxterrier Struppi, flog staunend durch die Luft.

Im Hannoveraner Wilhelm-Busch-Museum hängt das Blatt, das den berühmtesten Investigativ-Journalisten der Welt zum ersten Mal in seiner unverwechselbaren Silhouette zeigt, gewissermaßen am Ende einer Ahnengalerie. Tim hatte Vorläufer, sozusagen ältere Geschwister. Sein Vater, der 1907 in Brüssel geborene Zeichner Georges Remi, hatte schon als Schüler begonnen, "Le Boy-Scout belge", die Zeitschrift der katholischen Pfadfinderbewegung in Belgien, mit Illustrationen zu beliefern. Ab 1924 signierte er seine Zeichnungen mit dem Namen Hergé - einer lautmalerischen Langfassung seiner umgestellten Initialien RG - und zwei Jahre später erfand er für "Le Boy-scout belge" seinen ersten Serienhelden "Totor, Sippenführer der Maikäfer-Sippe". Totors Mondgesicht ähnelt bereits verblüffend dem kreisrunden Kopf von Tim, seine Pfadfinderkluft nimmt die Knickerbockerhosen des Reporters vorweg. Als Hergé 1928 für die Tageszeitung "Le XXe Siècle" die Redaktion der Jugendbeilage "Le Petit Vingtième" übernimmt, entwickelt er einen neuen Helden, der stets von seinem Hund begleitet wird. Am 30. Dezember 1928 erscheinen "Tintin und Milou" - so die Originalnamen von Tim und Struppi - erstmals in einer Weihnachstgeschichte des Blattes.

Die Ausstellung, die neben den Totor-Blättern und etlichen "Le Petit Vingtième"-Titelbildern auch einige frühe, noch stark dem Jugendstil verpflichtete Werbegraphiken des Autodidakten versammelt, trägt den Untertitel "Ein Blick ins Atelier Hergé". Wer die Galerie der entlang von hellblauen Wänden in angemessener Sakralität inszenierten Zeichnungen abschreitet, hat tatsächlich das Gefühl, dem Comic-Künstler bei der Arbeit über die Schulter zu gucken. Denn Hans Joachim Neyer, dem Direktor des Wilhelm-Busch-Museums, ist es gelungen, neben frühen Tim-und-Struppi-Ausgaben auch die kompletten Bleistiftentwürfe der beiden Geschichten "Der Blaue Lotus" (1934) und "Tim in Tibet" (1958-59) von Hergés Witwe Fanny Rodwell auszuleihen. Wenn die Fondation Hergé erst - wie geplant - ihr Tim-und-Struppi-Museum in Leuven bei Brüssel eröffnet hat, werden die kostbaren Originale Belgien wohl nie mehr verlassen.

Hergé gilt als Begründer der ligne claire, eines spezifisch europäischen Comicstils, der zu Gunsten einer scharfen Konturierung auf Schraffuren und andere Elemente der Binnenzeichnung verzichtet. In seinen Entwürfen präsentiert sich der Zeichner von einer anderen Seite: nicht klar, sondern chaotisch. Auch wenn die Texte für die Sprechblasen und die Aufteilung der Bilder schon weitgehend feststehen, probiert Hergé doch immer noch Bewegungsabläufe, Haltungen, Mimiken durch. Sein Bleistiftstrich ist nervös, er wirft seine Ideen rasch aufs Papier, streicht durch, dreht die Blätter, zeichnet von einer anderen Seite weiter, quetscht alternative Vorschläge in Bildecken. Wie dabei etwa der Yeti aus der "Tibet"-Episode vom Monster zum freundlichen Kuschelbären mutiert, das gehört zu den atemberaubensten Erkenntnissen dieser Ausstellung.

Hergé war ein Perfektionist. Seinen Helden Tim schickte er in 23 Abenteuern um die Welt, und obwohl er diese Fremde nur aus Büchern kannte, hatte er den Anspruch, sie möglichst authentisch zu zeigen. Als er Tim 1934 für "Der blaue Lotus" in den japanisch-chinesischen Krieg entsandte, fand Hergé in einem chinesischem Kunststudenten einen Berater, der ihn in die Geheimnisse fernöstlicher Schriftzeichen einweihte. Mit der Figur des Tschang setzte er ihm ein Denkmal. Die Akribie hatte ihren Preis: Der Ausstoß der Comicfabrik Hergé geriet ins Stocken. In den letzten zwanzig Jahren seines Lebens vollendete der Zeichner nur noch zwei Alben. Als der Meister 1983 starb, meldete die Pariser "Liberation": "Tintin est mort." Auf dem Cover hockte Struppi neben seinem toten Herrn und jaulte ein schauriges "Wuuuauuuh!"

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