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Herman Melville erzählt in „Moby-Dick“ von einem fanatischen Waljäger und Menschenhasser. 

© Mauritius Images/Michael S. Nolan

Herman Melville zum 200. Geburtstag: Vom Walfänger zur Ikone der amerikanischen Literatur

Er war ein Autor, der vom Ansturm der Ideen mitgerissen wurde: Herman Melville, dem Schöpfer von „Moby-Dick“, zum 200. Geburtstag.

Fotos von Herman Melville zeigen einen älteren Mann mit erzväterlichem Rauschebart. Dabei war er gerade mal einunddreißig, als er mit „Moby-Dick“ seinen fünften Roman vorlegte. Lediglich zwölf Jahre seines Lebens war er hauptberuflich Schriftsteller, der in hohem Tempo Bücher verfasste, die vom Publikum mit stetig schwindendem Verständnis aufgenommen wurden. Später arbeitete er als Zollinspektor im Hafen von New York, der wuchernden Metropole, in der er am 1. August 1819 geboren wurde und 1891 starb. Die allgemeine Anteilnahme an Zollinspektoren ist gering; deshalb wundert es nicht, dass nur wenige Details seines Lebens dokumentiert sind.

Vieles bleibt umwittert von Geheimnis und Vermutung. Prägende Erfahrungen lassen sich dennoch bestimmen. Dazu gehört, dass der Vater Allan Melville über seine Verhältnisse lebte und sich auf die Kunst verstand, den ökonomischen Abstieg der Familie zu kaschieren. Am Ende aber war der glücklose Importkaufmann und Erzeuger von acht Kindern pleite – ein Bild der Entwürdigung und das Ende von Hermans Kindheit. Frühzeitig wurde ihm so ein Bewusstsein der Vergeblichkeit eingeimpft. Geldsorgen und Melancholie blieben Leitmotive seines Lebens.

Dass er früh zur See drängte, war jugendliche Abenteuerlust, aber es war auch die Flucht vor der finanziellen Misere und den familiären Bedrückungen. Und vor den Stimmungstiefs, von denen die Erzählerfigur Ismael in den Anfangssätzen des „Moby-Dick“ zu berichten weiß: „Immer wenn ich merke, dass ich um den Mund herum grimmig werde, immer wenn in meiner Seele nasser, nieseliger November herrscht; immer wenn ich merke, dass ich vor Sarglagern stehenbleibe und jedem Leichenzug hinterher trotte, der mir begegnet (…) – dann ist es höchste Zeit für mich, so bald ich kann auf See zu kommen.“

Melville lebte mehrere Monate in Polynesien

Jede Epoche hat ihre Antithesen und Leitbegriffe, zwischen die sie ihr Selbstverständnis spannt. Zu Melvilles Zeit hießen sie: Wildheit und Zivilisation. Sie boten Deutungsmuster für die amerikanische Expansion nach Westen und die ethnische Säuberung der Indianergebiete; sie legitimierten die Kolonisierung der Welt und die Sklaverei. Wildheit und Zivilisation – die Antithese bestimmt auch die Werke Melvilles, aber der Schriftsteller konterkariert sie. Und das bereits in seinem Debüt- und Durchbruchswerk, das jetzt frisch übersetzt von Alexander Pechmann in einer schönen Ausgabe vorliegt. „Typee“ ist eine eigenwillige Mischung aus Reisebericht und Roman.

Wie in vielen seiner Werke verarbeitet Melville Erfahrungen seiner vier Jahre auf See. Er hatte als Einundzwanzigjähriger auf einem Walfänger angeheuert, war aber wegen der schwer erträglichen Bedingungen an Bord auf eine Pazifikinsel desertiert und hatte mehrere Monate unter polynesischen „Wilden“ gelebt. Mit Sympathie schildert er das Leben der Taipis, das von einem freundlichen Miteinander geprägt scheint, anders als die konkurrenzgeprägte amerikanische Gesellschaft, in der seine Familie nach dem Bankrott und frühen Tod des Vaters ums Überleben kämpfte.

Herman Melville (1819-1891), gemalt ca. 1870 von Joseph Eaton.
Herman Melville (1819-1891), gemalt ca. 1870 von Joseph Eaton.

© Apic/ Getty Images

Die gefürchteten „Kannibalen“ erweisen sich als liebenswürdige, etwas schrullige Menschen, deren komplizierte Regeln des „Tabu“ allerdings ziemlich undurchsichtig sind. Ihr unverkrampftes Verhältnis zur Körperlichkeit und Sexualität schlägt den puritanisch aufgewachsenen Erzähler ebenso in den Bann wie die begeisterten Leser seines Erstlings, die nicht genug bekommen konnten von den sinnenfreudigen Südseeparadiesen.

In schneller Folge veröffentlichte Melville weitere Südseeromane – am ambitioniertesten „Mardi“, der zum Jubiläum in der überarbeiteten Übersetzung von Rainer G. Schmidt erscheint. Nach abenteuerlichen Anfängen entwickelt sich der umfangreiche Roman zu einer Irrfahrt durch allegorische Inselwelten.

Grandiose psychologische Studie des Hasses

Auf den Inseln leben skurrile Gestalten, die jeweils eine einzige Eigenschaft, einen Spleen oder eine Besessenheit verkörpern und so Anlass zu vielfältigen philosophischen und politischen Reflexionen über die menschliche Gesellschaft geben. In „Mardi“ verdunkelt sich Melvilles Weltbild. „Das Böse“, heißt es an einer Stelle, sei „die chronische Krankheit des Universums; wird ihm an einer Stelle Einhalt geboten, bricht es an einer anderen aus“.

Ausbruch des Bösen – das ist eine Formel, die auf Melvilles nächstes Werk passt, sein größtes. Ahab wird beim rücksichtslosen Kampf gegen das, was er als das Ur-Böse empfindet, zum Ebenbild dessen, was er hasst. Seine Obsession der Rache an Moby-Dick versteckt sich lange hinter scheinbarer Vernunft.

Er ist ja nicht nur der Grimmbart mit Holzbein, sondern auch ein Mann subtiler Reflexionen und die Reinkarnation mythischer Größen – Prometheus, Satan, Hiob, Lear. Die grandiose psychologische Studie des Hasses verschafft dem Roman immer neue, aktuelle Bezüge – ob Osama Bin Ladens Terror gegen den Westen oder George W. Bushs Kampf gegen die „Achse des Bösen“.

Bartleby ist die Gegenfigur zu Ahab

Herman Melville erzählt in „Moby-Dick“ von einem fanatischen Waljäger und Menschenhasser. 
Herman Melville erzählt in „Moby-Dick“ von einem fanatischen Waljäger und Menschenhasser. 

© Mauritius Images/Michael S. Nolan

„Moby-Dick“ ist das akribische Epos einer Schlachtindustrie, ein modernes Erzählkunstwerk voller Exkurse – von der Naturhistorie und Mythologie über Biologie und Ozeankunde bis zur Walfängersoziologie und Tranprodukteforschung.

Melville war kein Schönschreiber, sondern ein Autor, der vom Ansturm der Ideen und Sätze mitgerissen wurde. Seine in immer neue Seitentriebe ausbrechende Prosa mit ihren ekstatischen Kadenzen steht für ein Schreiben, das die „innere Zensur“ aufhebt und zum Bewusstseinsstrom tendiert. Damit überforderte er die Zeitgenossen.

"Ich möchte lieber nicht"

„Hätte ich in diesem Jahrhundert die Evangelien geschrieben, so würde ich doch in der Gosse sterben“, klagte er 1851 in einem Brief an seinen Schriftsteller-Freund Nathaniel Hawthorne. Da war „Moby-Dick“ gerade am Publikum vorbeigeschwommen. Die Erstausgabe von 3000 Exemplaren verkaufte sich in den 40 Jahren, die Melville noch lebte, nicht. Aber er gab nicht auf, sondern verfasste im Schreibrausch gleich den nächsten Großroman „Pierre oder die Doppeldeutigkeiten“.

Darin verzichtete er auf den Meerwassergeschmack, der dem überwiegend weiblichen Romanpublikum offenbar wenig zusagte. Stattdessen setzte er auf Schauerromantik, ohne dem vergrübelten Buch einen mitreißenden Plot verleihen zu können, eher gleicht es einer endlosen Wendeltreppe in die seelischen Abgründe des Helden Pierre, der sich glücklos als Schriftsteller versucht.

1856 erschien der Novellenband „The Piazza Tales“, der zwei Meisterwerke der Weltliteratur enthält. Eines ist die rätselhafte Geschichte des New Yorker Lohnschreibers Bartleby mit seinem Mantra der Verweigerung: „Ich möchte lieber nicht.“ Bartleby ist die Gegenfigur zum Willenskrampfmenschen Ahab. Er möchte lieber kein menschliches Kopiergerät sein; eigentlich möchte er überhaupt nichts und bleibt dabei doch unverbindlich freundlich.

Ob Melvilles Ehe glücklich war, ist umstritten

Die sanftmütige Aufsässigkeit eines Menschen ohne Ambition ist eine Irritation für die Wachstumsgesellschaft, die zusammengehalten wird vom Ehrgeiz und dem Willensdrang ihrer Mitglieder. „Bartleby“ ist eine Büro-Erzählung, die man erst nach Kafka und der Literatur des Absurden zu lesen gelernt hat. Nicht weniger beeindruckend ist die düstere Novelle „Benito Cereno“, die mit faszinierender Doppelbödigkeit von der Rebellion auf einem Sklavenschiff erzählt. Hier hat Melville den Grundkonflikt der auf den Bürgerkrieg zutreibenden amerikanischen Gesellschaft parabelhaft verdichtet.

Nur ein einziger Brief Melvilles an seine Frau Lizzie ist erhalten. Ob die Ehe unglücklich oder ein Zweckbündnis mit späterem Harmoniezuwachs war, ist umstritten. Melvilles Ehe- und Alltagsleben ist eben kaum zu rekonstruieren. Der Literaturkritiker Thomas David hilft sich in seiner neuen illustrierten Biografie über die Leerstellen und den Mangel an Zeugnissen hinweg, indem er Schauplätze von Melvilles Leben aufsucht, um dort Reste von Aura und Atmosphäre zu erschnuppern. Die beste Biografie der letzten Jahre stammt von Andrew Delbanco; es ist ein kluges Buch der historischen, politischen, mediengeschichtlichen und literarischen Kontexte.

Am Ende schreibt er noch ein Meisterwerk

Schwere Schicksalsschläge trafen den Schriftsteller im Alter, allen voran der frühe Tod seiner beiden Söhne durch Selbstmord und Krankheit. Am Ende aber schrieb er noch ein Meisterwerk: „Billy Budd“, die Geschichte eines charismatischen Friedensengels, der zum Totschläger wird. Der Roman blieb lange verwahrt in einem Blechkasten und erblickte erst 1924 das Licht der staunenden literarischen Öffentlichkeit. Endlich begann die Wiederentdeckung Melvilles.

Große Romane und Erzählungen sind Spiegel – für ihre Zeit, aber auch für Themen und Motive, die über die Zeit hinausweisen. Herman Melville wurde zur Ikone der modernen amerikanischen Literatur, weil seine besten Werke diese Spiegelfunktion in außerordentlichem Maß besitzen, auch wenn seine Zeitgenossen noch kein Sensorium dafür hatten.

Eine Geschichte so zu erzählen, dass sie im Lauf der Zeit immer bedeutungsvoller und hintergründiger erscheint, das kann ein Autor allerdings nicht planen. Nach wie vor gilt deshalb das Wort von D.H. Lawrence über den weißen Wal: „Natürlich ist er ein Symbol. Doch wofür? Ich glaube nicht, dass Melville selbst es genau gewusst hat. Und das ist das Beste daran.“

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