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Kultur: Heute auch Kiew

Wie Péter Zilahys literarisch-fotografisches „Revolutionsalphabet“ Osteuropa erobert

In der Ukraine, heißt es, wurde „Die letzte Fenstergiraffe“ zum „Buch des Jahres“ gewählt. Das war noch vor den Präsidentschaftswahlen und all den Demonstrationen, die Kiew gerade zur internationalen Nachrichtenhauptstadt gemacht haben. Jetzt wäre es sogar das Buch der Stunde. Und just an diesem Wochenende wird die russische Ausgabe in Moskau und St. Petersburg vorgestellt – mit schönen Grüßen an Zar Putin.

Die Rede ist von Péter Zilahys kleinem, demonstrationskundlichen „Revolutions-Alphabet“, das im Haupttitel jenen wunderlichen Giraffen-Namen trägt und das vor einigen Wochen auch auf Deutsch erschienen ist, in einer witzig poetischen Übertragung aus dem Ungarischen durch die in Berlin lebende Schriftstellerin Terézia Mora (Verlag Eichborn Berlin, 183 Seiten, 22,90 €).

Man bezeichnet den 34-jährigen Budapester Autor, Performer, Fotografen und Filmemacher Péter Zilahy schon als „ungarischen Andy Warhol“. Das mag etwas übertrieben klingen, auch wenn der persönlich sehr charmante, selbstbewusst weltläufige junge Ungar New York als eine seiner vielen Zweitheimaten bezeichnet. Zilahys Motto: „Ankunft in einer fremden Stadt, ein vertrautes Gefühl.“ Erstaunlich ist allerdings der Erfolg seiner in nunmehr 15 Sprachen übersetzten und von ihm selbst in einer Mischung aus Lesung und Computervideoshow in 28 Ländern vorgeführten „Fenstergiraffe“. Ein heimlicher Bestseller, der als Text-Bild-Komposition aus Erzählung, Reportage, Essay und Fotoroman unter anderem mit der B-Achse der Städte Brüssel, Berlin, Budapest, Belgrad, Bukarest, Bagdad spielt – und auch mal ganz beiläufig den Tagtraum der „schwindelerregende(n) Horizonte eines neuen Europa von den Karpaten bis nach Kalifornien“ träumt. Da sind wir dann beim Buchstaben K, dem auf Ungarisch beispielsweise die Worte „költo“ (Dichter), „képzelet“ (Fantasie) und „koton“ (Kondom) zugeordnet sind.

Was hier fehlt, ist der Kommunismus. Denn Péter Zilahys „Fenstergiraffe“ entwickelt auf der Folie eines beliebten, gleichnamigen ungarischen Kinderbuchs eine spielerische Geschichte des demokratischen (widersprüchlichen, anarchischen) Erwachsenenwerdens im Osteuropa der Nachwende- und Umbruchzeiten. Dabei stehen die hautnah beobachteten und von Zilahy mit ahnendem Gespür fotografierten Demonstrationen zwischen Gegnern und Anhängern Milosevics in Belgrad 1996/97 im Mittelpunkt. Ein Vorspiel, das zum späteren, letzten Jugoslawienkrieg und dem Sturz des Diktators führte – und, heute gelesen, ist es der Vorschein auch einer auf den Straßen von Kiew möglichst ohne Blutvergießen errungenen Revolution in der Ukraine.

Noch nie haben sich balkanisch-osteuropäischer Trotz und unübersehbare Tristesse so spielerisch elegant und darum doch hoffnungsfroh gemischt in einem Buch, das die „postmoderne Demonstration“ im Vakuum aus Diktatur und globaler Medienöffentlichkeit auch zum neuen, unwiderstehlichen Straßentheater macht. Unter Zilahys coolem Blick, ganz ohne 60er-Jahre-Revolutionsromantik, tanzt das Phänomen und Phantom einer heiß ersehnten kalten Freiheit auch durch diesen beginnenden Winter.

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