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1997

© picture alliance / Schütze/Rodem

Kultur: Heute Nacht oder nie

Wie wird man Opernregisseur? Früher ging nur die Ochsentour, heute gibt es Wettbewerbe. Ein Besuch beim Grazer Ring Award.

Darben oder gar verdursten hat man nicht müssen an diesem Sommerwochenende in Graz. Freitagabend eine Landpartie in die Weststeiermark mit Schilchersekt und hauseigenem Waldschweinsbraten, dazu, weil gerade Johanni ist, Feuerwerk und Krapfen und ein Schnapserl von der Hirschbirne. Samstagmittag Empfang des Landes Steiermark in der Grazer Burg, Samstag 18 Uhr 15 Sektempfang auf den Terrassen des Schlossberghotels (nobles Fingerfood und Grußadresse der Präsidentin des Internationalen Richard-Wagner-Verbandes inklusive), abends, nach der dritten „Fledermaus“-Präsentation von insgesamt vieren, gemütliches Beisammensein und ein letztes, allerletztes Absackerl. Sonntagvormittag dann Preisverleihung mit Jurybegründung – und Abschiedsempfang des Grazer Bürgermeisters bei O-Saft, Flaschenbier und belegten Broten. Uff.

Völlerei? Ein lustiges Wochenende auf Kosten der öffentlichen Hand? Oder gar der Versuch, Größen der Theaterbranche wie den Intendanten der Komischen Oper Berlin, Andreas Homoki, oder den des Brüsseler Theaters La Monnaie, Peter de Caluwe, mit rein kulinarischen Mitteln hinter die sieben Berge zu den sieben Zwergen zu locken? Die Steiermark mag das balkanischste aller österreichischen Bundesländer sein. Von ihr lernen aber hieß schon immer genießen lernen. Und das hat mit Kunst, mit Theater mehr zu tun, als man denkt. „Wir wollen, dass sich unsere Juroren, Künstler und Gäste wohlfühlen“, sagt Heinz Weyringer, der Intendant des Grazer Ring Awards. Dahinter steht die Überzeugung, dass Künstler ein Zuhause brauchen, ein Behütetsein. Und dass der Nachwuchs eine Zukunft verdient hat, die ihm der Betrieb nicht mehr ohne Weiteres geben kann.

Ring Award 2011 also, Internationaler Wettbewerb für Regie und Bühnengestaltung. Der Einzige seiner Art, der den Teilnehmern bereits zum Finale, als Bestandteil der Prüfungsaufgabe, eine veritable Aufführung beschert. Bei der Konkurrenz (etwa beim Europäischen Opernregie-Preis EOP), beschränkt sich das Procedere meist auf eingereichte Konzepte und ein bisschen Vorinszenieren. Hier wie da aber ist der Ansturm enorm: So verzeichnet der EOP mit Sitz in Wiesbaden in diesem Jahr 231 Anmeldungen aus 25 Ländern. Beim Ring Award waren es 138 (mehr als doppelt so viel wie im ersten Jahrgang 1997!), aus denen im vergangenen September 62 ausgewählt und für so tauglich befunden wurden, dass sie in die erste Runde gelangten. Das Semi-Finale im Januar erreichten noch 12 Teams, das Finale dann vier. Ein Team besteht mindestens aus Regisseur und Bühnenbildner, oft kommt noch der Kostümbildner hinzu oder ein Dramaturg. Es gibt also immer noch erstaunlich viele junge Leute, die nichts dringlicher wollen, als ausgerechnet für das Musiktheater arbeiten. Und das im Zeitalter von Facebook, Twitter & Co..

Die Berliner Journalistin Eva Behrendt spricht in einem Beitrag für Graz – und ohne etwas vom Wettbewerb gesehen zu haben – vom „Prinzip Prenzlauer Berg“: „Die Lebenskonzepte von Bürgern und Bohemiens sind in den vergangenen Jahrzehnten immer näher zusammengerückt. Bürger können und wollen an der auratischen und emanzipatorischen Freiheit der Bohème partizipieren, Künstler an der materiellen Sicherheit der Bürgerwelt. Joseph Beuys’ Fluxus-Schlachtruf ,Jeder Mensch ist ein Künstler’ nimmt mitunter bedrohliche Formen an: Immer mehr junge Menschen entscheiden sich für kreative Berufe – man kann das an den Absolventenzahlen, in Deutschland überdies an der explosionsartigen Vermehrung der Mitgliederzahlen der Künstlersozialkasse (...) ablesen.“

Noch nie wurde an den Kunst- und Musikhochschulen des Abendlands so flächendeckend und professionell ausgebildet wie heute. Und noch nie gab es so viele Wettbewerbe, Stipendien und Exzellenz-Initiativen, so viele Möglichkeiten, sich abseits der ausgetretenen, klassischen Pfade in kürzester Zeit zu profilieren. Wer früher, noch in den Siebziger- oder Achtzigerjahren, Regie führen wollte, heuerte als Regieassistent an und begab sich anschließend auf Ochsentour durch die Provinz, die Hoffnung auf einen ersten eigenen Auftrag wie einen Mühlstein um den Hals mitschleppend. Wer heute Regisseur werden will, sorgt am besten schon bei seiner Diplom-Arbeit für gehöriges Aufsehen – wie Michael von Zur Mühlen, Absolvent der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin, der seinen „Fliegenden Holländer“ 2008 an der Leipziger Oper mit Kampfhund-Videos garnierte. Oder man gewinnt Wettbewerbe – wie nun der Brite Sam Brown, der mit seiner Bühnenbildnerin Annemarie Woods als der strahlende Absahner 2011 gilt. Im März den EOP gewonnen, im Juni Graz und zwar in sämtlichen Kategorien: Das Team kann sich schon jetzt, im vergleichsweise zarten Alter von 29 bzw. 33 Jahren, vor Aufträgen kaum retten. Die Frage ist nur, wo all die leer ausgehenden Mitbewerber bleiben.

Der Kunst selbst, den einzelnen künstlerischen Ergebnissen tut ein solch inflationäres Interesse nicht unbedingt gut. Denn was wird aus der Bühnenkunst, wenn alle nur noch selber im Scheinwerferlicht stehen und sich keiner mehr als originärer Zuschauer begreift? Der Theatermacher René Pollesch bringt es in seinem Stück „Fahrende Frauen“ auf den Punkt (und Eva Behrendt zitiert ihn): „Das Publikum ist schon da. Da draußen sitzen wieder lauter Kreative. Das war doch mal anders. Es gab doch Zeiten, da waren die Kreativen auf der Bühne und da unten saßen Leute, die entfremdeter Arbeit nachgingen.“

Umso erstaunlicher ist es, dass der Ring Award 2011 den Finger nicht in diese klaffende zeitgeistige Wunde legt, sondern mit Sam Brown/Annemarie Woods fraglos den konventionellsten Entwurf und das verlässlichste Handwerk prämiert, den wienerischsten Witz auch, das vitalste Spiel. Man sucht im Sinne einer Zukunftssicherung also nicht in erster Linie nach neuen Theaterformen und Erzählweisen (an denen sich etwa der erst 21-jährige Berliner Finalist Hannes Kapsch und seine Bühnenbildnerin Trixy Tiny Lucy Royeck versuchten, wenig glücklich, aber immerhin), sondern nach der größtmöglichen Nähe zur Tradition, zum eigenen Theatererleben.

Das wiederum mag auch am Gegenstand liegen, an der Prüfungsaufgabe an sich, dem ersten Akt aus Johann Strauß’ Meister-Operette „Die Fledermaus“. Berührungsscheu und fehlendes Walzergemüt, musikalische Ahnungslosigkeit und mangelnde Erfahrung mit den Chancen und Tücken des Genres prägen die eingesandten Konzepte, deren Bühnenbildmodelle man im Januar in der Montagehalle der Grazer Oper studieren konnte. Was bekam man da nicht alles aufgetischt! Die typische Einfamilienhölle und die Loft-Bar im 89. Stock, zersplitternde Spiegelwände und schiffschaukelnde Riesensofas, ein Raubtier-Karussell, fliegende Salons etc. pp. Die Vielfalt der Entwürfe – und das ist eine Erfahrung, die alle sechs Ring Awards seit 1997 miteinander teilen – ist immer wieder bestrickend. Wie können die Welten, die ein und dieselbe Geschichte, ein und dieselbe Musik in Menschen heraufbeschwören, nur so grundverschieden sein?

Das Gefühl aber, die „Fledermaus“ machen zu müssen, weil kein anderes Stück hier und heute mehr verrät über Männerfreundschaften und die Untiefen des Ehelebens, über Privilegierte und Gestrandete, Vergnügungsselige und -süchtige und Depressive, über Börsencrashs und das Lachen im Theater als das „höchste erreichbare Soziale“ (Hofmannsthal) – dieses Gefühl stellt sich 2011 nur selten ein. Umso dankbarer schlägt sich die Jury unter dem Vorsitz der Grazer Opernintendantin Elisabeth Sobotka auf die Schenkel, wenn der Tenor Alfred seine Ex-Geliebte Rosalinde bei Sam Brown mit einer „Blunz’n“ zu verführen trachtet (zu deutsch: Blutwurst), auf der sich jede Menge lecker Senf verreiben lässt ... Sex sells – und Nazis sowieso: Das Ganze spielt 1945 in Wien, die Russen sind da, und die Hitler-Konterfeis und Hakenkreuz-Fähnchen ruhen noch etwas erstaunt in den Schubladen.

Das ist ja eines der Hauptprobleme von künstlerischen Wettbewerben: Dass man zu einem Text, einer Musik, einem Komponisten „gezwungen“ wird, zu dem man im Moment vielleicht gar nicht so viel zu sagen hat. Wettbewerb aber bleibt Wettbewerb, und in der Vita macht sich jede Teilnahme gut. Das Renommee des Ring Awards ist mittlerweile so groß, dass schon zum Semi-Finale Intendanten anreisen, um sich ihre eigenen Rosinen aus dem Nachwuchs-Kuchen zu picken.

Zur „Fledermaus“ von 1874 hat die Generation der heute 25- bis 35-Jährigen trotzdem offenkundig wenig zu sagen. Ein Problem der Stückwahl und/oder der Gattung? Haben die Verantwortlichen zu weit oder zu kurz gedacht, als sie 2008, nach Verdis „Rigoletto“ und kurz vor einer neuerlichen Weltwirtschaftskrise an den legendären „Gründerkrach“ von 1873 dachten (der mit der Entstehung der „Fledermaus“ eng verwoben ist) und daran, dass es doch allerlei Beziehungen aufzudecken oder zu stiften gäbe zwischen den Ambivalenzen der Jetztzeit und dem Vulkan, auf dem Johann Strauß seine Figuren tanzen lässt? Heinz Weyringer sieht das gelassen: „Operette wird immer gebraucht, das müssen die Jungen lernen. Wir haben hier auch die Aufgabe, sie auf den Theateralltag vorzubereiten.“

Ganz nebenbei erfüllen Ring-Award- Stücke keine geringen Anforderungen: Die Rollen müssen in der Anzahl überschaubar und von jungen Sängerinnen und Sängern zu bewältigen sein, es darf keinen Chor geben, und vom Repertoire her bewegt man sich lieber im 19. als im 16. oder 21. Jahrhundert. Ausschnitte aus Wagners „Rheingold“ und „Parsifal“, aus „Hoffmanns Erzählungen“ von Offenbach, Mozarts „Figaro“ und Verdis „Rigoletto“ haben diesen Kriterien in den vergangenen sechs Wettbewerbs-Jahrgängen entsprochen. Und die Riege der Preisträger liest sich wie ein Who’s who der jüngeren Opern-Regie: Vera Nemirova hat hier gewonnen und inszeniert gerade in Frankfurt am Main den „Ring“, Tatjana Gürbaca machte Furore und ist ab nächster Spielzeit Operndirektorin in Mainz, und David Herrmann, Anna Malunat und Tobias Kratzer sind ebenfalls gut im Geschäft.

Eins der Erfolgsrezepte des Wettbewerbs ist ganz sicher seine enge, über Jahre gewachsene und emsig gepflegte Beziehung zur Szene. Neben dem Hauptpreis des Landes Steiermark, dem Ring Award (2500 Euro plus eine Inszenierung an der Grazer Oper), und dem Preis der Stadt Graz (2500 Euro) werden von den Theatern in Bonn, Karlsruhe, Cottbus, Luzern, Mainz sowie vom Schauspielhaus Graz insgesamt sechs Sonderpreise für jeweils eine Inszenierung ausgelobt. Den Intendanten möchte man sehen, der sich dazu – apropos Waldschweinsbraten, apropos Zukunft – nicht gern bereit erklärte.

Die Komische Oper übrigens vergibt in einem eigens für Berlin arrangierten zweiten Semi-Finale traditionell einen eigenen Preis (1500 Euro). Dieser geht 2011 an das im Grazer Finale ebenfalls leer ausgehende Team Johannes Rieder/Thomas Unthan, die die „Fledermaus“ von hinten nach vorne erzählen, als Krimi der zersplitternden Realitäten und Identitäten. Das Frauenbild, ach ja, ist auch hier nicht sonderlich progressiv: Von den beiden Rosalinden, die die Szene bevölkern, ist die eine tot (nämlich von Eisenstein gemeuchelt) und die andere jene „Schlampe“, die den armen Mann hat „grau und dumpf“ werden lassen. Bei Sam Brown, wie gesagt, darf Rosalinde Senf auf Blutwürste streichen, und es ist der grandiosen Präsenz der Sopranistin Stefanie C. Braun zu verdanken, dass das nicht blöd oder erniedrigend wirkt. Mit welch fragloser Leichtigkeit die durchsexualisierte, latent misogyne Welt des 21. Jahrhunderts Eingang ins Theater findet, ist allerdings ein Befund, über den sich nachdenken ließe, auch jury-kritisch.

Entstanden ist der Ring Award 1997 aus einer Initiative des Wagner Forums Graz, welches sich seinerseits zwei Jahre zuvor als „sezessionistische Bewegung“ gegründet hatte. Der ansässige Grazer Wagner-Verband war dadurch in Verruf geraten, dass er neonazistische Flugblätter verteilte und 1994 in seinem Jahrbuch einen Aufsatz von Joseph Goebbels nachdruckte. Dem musste etwas entgegengesetzt werden, befanden Heinz Weyringer und sein Mitstreiter Walter Bernhart. Schließlich hatte Graz als Wagner-Stadt etwas zu verlieren. Am 20. Januar 1854 war hier mit dem „Tannhäuser“ die allererste Wagner-Oper auf österreichischem Boden gegeben worden.

Tradition verpflichtet? Widerstand verpflichtet? Wer sich heute beim Ring Award bewirbt, ist kein blutiger Anfänger mehr, sondern hat mindestens eine gewisse Hochschul- und/oder StipendienKarriere hinter sich. Das garantiert Selbstvertrauen und Professionalität. Außerdem kann er zwischen zwei Sparten wählen, der eigentlichen Inszenierung und einer Off-Produktion, der es gestattet ist, die jeweilige „Werkintegrität“ aufzulösen. 2011 hat das dänisch-schweizerisch-österreichische Off-Team um den Regisseur Morten K. Roesen allerdings einen so schwachen Eindruck hinterlassen, dass diskutiert wird, die Spartenaufteilung entweder aufzulösen oder ganz neu zu formulieren. 2014 findet der nächste Wettbewerb statt. Und wieder stehen 160 000 Euro bereit, um die Welt daran zu erinnern, dass es dabei um sehr viel mehr geht als um lustige Landpartien und kleine Fressereien.

Vor allem nämlich scheint der angehende Regisseur auf seinem Weg zu lernen, laut und vernehmlich „Ich“ zu sagen. Hannes Kapsch, der 21-Jährige (der zum ersten Mal mit 12 bei Andreas Homoki vorstellig wurde!), kann das am besten, seiner Jugend sei es verziehen. Er begreife Strauß und die „Fledermaus“, sagt er im Publikumsgespräch, als Material, schließlich habe der Mann vor 200 Jahren gelebt – was also soll er uns heute mit unseren heutigen Problemen noch zu sagen haben? So gesehen hat die Jury-Entscheidung für Sam Brown etwas Tröstlich-Untröstliches. Gefangen im Kokon der Konvention trauen wir uns weder vor noch zurück. Lassen die „Fledermaus“ nicht los und halten sie nicht fest. So klar wie in diesem Sommer in Graz war das noch nie.

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