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Kultur: Hier wird gestreikt!

Das ist doch das Letzte, brüllt der alte Mann auf der Straße. Ich fass’ es nicht, ereifert er sich und steigert seinen Monolog zur Sturmflut von Schimpfwörtern, Verwünschungen, Flüchen.

Das ist doch das Letzte, brüllt der alte Mann auf der Straße. Ich fass’ es nicht, ereifert er sich und steigert seinen Monolog zur Sturmflut von Schimpfwörtern, Verwünschungen, Flüchen. Delirium eines Großstädters. Keiner hört ihm zu.

Das ist doch das Letzte. Heute mit dem falschen Bein aufgestanden, schon wieder ein Sommerregen ohne Sommer, im Balkonkrieg gegen die Blattläuse zu spät Stellung bezogen, den Geburtstag der Freundin vergessen, den Bus versäumt, den Termin verpatzt. Man steht in der Konzertpause auf der Terrasse der Philharmonie (siehe S.30), es ist 21.15 Uhr, ein Schrei löst sich aus dem Häusermeer: Tor für die Deutschen. So ist es immer: Das halbe Leben, ach was, 95 Prozent des menschlichen Erdendaseins bestehen aus verpassten Gelegenheiten. Stoßseufzer einer Großstädterin: Überall ist es besser, wo wir nicht sind. Zum Teufel mit dem freien Willen: die grandiose Premiere, das furiose Gastspiel, das Recital der Saison, der Höhepunkt des Filmfestivals, das Spiel des Jahres – unsereins hatte an diesem Tag garantiert etwas anderes vor. Ganz schön schrecklich: Das Einmalige gebiert das Exklusive auch. Alle waren da, nur wir mal wieder nicht.

Die „taz“ hat Recht. Soll die Politik doch reformieren, die Wirtschaft den Reichtum mehren und die Kultur nach Weltniveau schielen: Wir bleiben am Bloomsday zu Hause und schreiben den „Ulysses“ um. 24 Zeitungsseiten Gegenwarts-Verweigerung, Mitmach-Boykott, Aktualitäts-Streik. Sollen doch die andern dem Ball hinterher rennen. Hier bleibt er liegen.

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