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Kultur: Himmel, schick einen Traum!

Hyperion im Atomlabor: Johannes Kühns wiederentdeckte Erzählung „Ein Ende zur rechten Zeit“

Wenn eine Epoche von ihrem Zuendegehen läuten hört, hält sie Ausschau nach edlen Wilden, verkannten Propheten oder überhörten Sängern. Um herauszufinden, wie es um sie steht und wie es weitergeht, sucht sie nach einem Spiegelbild im kulturell oder zeitlich Anderen. Oder sie sucht ihr Echo im abweichenden Klang einer Stimme. Dabei revidiert sie ihren Kanon.

Für die alte Bundesrepublik war so eine Stimme der lange überhörte und fast ein Jahrzehnt gänzlich verstummte Dichter Johannes Kühn. Der Ton seiner wie selbstverständlich an Hölderlin, Eichendorff und Trakl anknüpfenden Gedichte ließ die von experimentellem Wortgeklingel und postmodernistischen Manierismen müden Ohren aufhorchen: „Es hat sich der Winter eingenistet / in Aug und Mund. / Er knechtet den Garten, / in dem wir sonst saßen, / und wo der Abendstern / gut in unsere Mitte kam.“

Kühns Natur- und Alltagslyrik war zwar nicht auf dem „Stand des Materials“, wie Adorno gesagt hätte. Nichts lag ihr ferner. Man konnte sie mit Recht anachronistisch nennen. Aber viele der Gedichte hatten zeitlose Ausstrahlung. Sie waren naiv und gleichzeitig abgründig, sie waren bisweilen ironisch und wirkten dabei so echt, dass man damals aufschreckte und plötzlich wieder genau zu wissen meinte, was das ist: ein authentischer Ton.

Johannes Kühns 1984 in einem Kleinverlag erschienener Gedichtband „Salzgeschmack“ wurde schnell zum Geheimtipp und dann – für Lyrik-Verhältnisse – zum Bestseller. Manch einer war damals skeptisch angesichts der biografischen Angaben zur Person des Dichters. Sie klangen allzu sehr nach verkanntem Genie. 1934 in einem saarländischen Kaff in kleinsten Verhältnissen geboren, früher Schreibbeginn, aus gesundheitlichen Gründen kein Abitur, einige Semester als Gasthörer an der Universität, Maloche im Spanplattenwerk und im Straßenbau bei rastloser Schreibarbeit, zwei frühe unbeachtete Gedichtbände, schließlich Depression und vollständiges Verstummen. Und böse Geister wollten anfänglich dem Germanisten-Ehepaar Benno und Irmgard Resch nicht so recht trauen, das als Herausgeber- und Lektorenteam des Gedichtbandes und seiner zahlreichen Nachfolger zeichnete: das Genie hospitalisiert, die Genie-Freunde aus vieltausend Manuskriptseiten immer neue Lyrikbände destillierend – das klang verdächtig nach einer Kombination aus Hölderlin-Turm und der Rolle Max Brods als Kafka-Witwe.

Erst als zwei Gedichtbände im Hanser Verlag erschienen, „Ich Winkelgast“(1989), und „Gelehnt an Luft“, (1992), und sich allmählich Eminenzen wie Ludwig Harig, Reiner Kunze, Peter Rühmkorf und Harald Hartung für Kühns Lyrik einzusetzen begannen, respektierte man neben der beeindruckenden Qualität der Gedichte auch die in der Literaturgeschichte einzigartige freundschaftliche und editorische Fürsorgebeziehung zwischen dem Dichter und dem Ehepaar. Allmählich kehrte der Dichter aus seinem sprachlosen Seelenkerker zurück, begann wieder zu schreiben und sogar öffentlich zu lesen. Peter Rühmkorf, selten zu Pathos neigend, feierte 1995 das „Auferstehungswunder“. Seitdem verfasst Johannes Kühn täglich drei Gedichte (der Autor lakonisch: „ein Pensum, das ich für gerechtfertigt halte“), und seine Lyrik, von der heute achtzehn schmale Bände vorliegen, wurde in mehrere Sprachen übersetzt und mit acht Literaturpreisen ausgezeichnet, darunter dem Hermann-Lenz-Preis (2000) und der Friedrich-Hölderlin-Literaturpreis (2002).

Zum kürzlich gefeierten siebzigsten Geburtstag Johannes Kühns ist die unveröffentlichte frühe Erzählung „Ein Ende zur rechten Zeit“ erschienen. Kühn hat sie um 1957 im Alter von nur 23 Jahren geschrieben, ein Roman in Briefen, angelehnt an Hölderlins „Hyperion“. Auf knapp 130 Seiten schildert Kühn die existenzielle Krise eines Studenten, der in den Ferien in einem Sägewerk arbeitet, um für das nächste Semester Geld zu verdienen. Sein Fühlen und sein Denken geraten aus dem Gleichgewicht, als er einen Unfall beobachtet, bei dem eine Hilfsarbeiterin einen Arm verliert.

„Wenn der Geist einmal an eine Seite festgebunden ist, wird er auch zu ihr denken. Ich bin an zwei gebunden.“ Solche Sätze schreibt der Student Hans nach der gehassten Arbeitsschicht an seinen imaginären Briefpartner, den „großen Weisen“ Cicero. Hans’ Geist ist einerseits an ein (unerreichbares) Mädchen „festgebunden“, seine „Königin“ Regina, in die er verliebt ist. Andererseits „an unsere Zeit, die in ihren drückenden Erscheinungen, ausgelöst von dieser Arbeit, nun einmal auf mir lastet“. Im Knattern des Mopeds, das die Vögel des Waldes verscheucht, in den Maschinen des Sägewerks, die die Arbeiter in ihren unerbittlichen Rhythmus zwingen und in den Radioberichten von neuen Atombombenversuchen erkennt er die unumkehrbare Zerstörung des Einklangs von Mensch und Natur, wie er im ländlichen Saarland der Fünfzigerjahre noch wahrnehmbar gewesen sein mag.

Zur gleichen Zeit entstanden, als das Epochenbuch „Die Antiquiertheit des Menschen“ des Philosophen Günther Anders erschien, ist Kühns Briefroman ein früher poetischer Reflex auf die technische und geistige Globalisierung in einer Welt, die „so klein wird durch Eisenbahn und Kabel und Flugzeug“. Der Briefeschreiber Hans erspürt die technische Hybris der Moderne noch im kleinsten mechanischen Detail einer Bandsäge und versucht seinem antiken Brieffreund die negative Erhabenheit zu vermitteln, die von der entfremdeten maschinellen Arbeitswelt direkt zur Atombombe und zur ökologischen Katastrophe zu führen scheint.

Das Rom Ciceros wird dabei nicht verklärt. Hätte der Verfasser der Briefe damals gelebt, er wäre ebenso Außenseiter gewesen wie im Deutschland der Fünfzigerjahre, er wäre an den „Galeerensklaven“ ebenso verzweifelt wie an der neuzeitlichen Technik. Aber in der Spanne der zweitausend Jahre, die die Briefe überbrücken, gewinnt der Autor die Vogelperspektive auf die Moderne. Und den mystischen Blick, der Sägewerk und Atomlabor zusammenschaut.

„Himmel schick einen Traum! Er soll die Glieder lösen, die gespannt sind wie zu einer Flucht.“ In Anspielung auf Sappho klingt der Traum von einer Macht an, die der ungeheuren Erfindungsgabe der Menschen ein Maß sein müsste: der Traum von Liebe.

„Ein Ende zur rechten Zeit“ ist eine einfache Geschichte, aber eine mit enormer Fallhöhe: Johannes Kühn hatte als 23-Jähriger die denkbar größten literarischen Vorbilder und griff ein Thema auf, das damals in dieser Form literarisches Neuland war. Vor fast fünfzig Jahren fiel der Text durch die Maschen des literarischen Betriebs. Erst heute sieht man, dass er seinen Ansprüchen standhält.

Johannes Kühn: Ein Ende zur rechten Zeit. Erzählung. Mit einem Nachwort von Wilhelm Genazino. Carl Hanser Verlag, München 2004. 142 Seiten, 14,90 €.

Marius Meller

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