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Kultur: Hinaus aufs absinthene Meer

„Schöne Bescherung“ heißt der heitere Berlin-Roman von Christoph Geiser. Mit dem Autor unterwegs am Ludwigkirchplatz.

„Dem Bellen der Möpse entkommen. Den Wilmersdorfer Witwen, den gefürchteten, schwarzen …“, betet der Erzähler während eines Klinikaufenthaltes am Bodensee – und glaubt doch selbst nicht daran: Verräterisch, dass er von sich als einem „Wir“ spricht! Der Held in Christoph Geisers neuem Roman „Schöne Bescherung“ ist ein moderner Don Quichote, Schriftsteller und Genussmensch, steckt in einer Krise und ist ein Alter Ego seines Erfinders. Schon auf dem Weg zum Treffen im „Manzini“, seinem Stammlokal unweit des Ludwigkirchplatzes, meint man überall jene Witwen und asthmatisch keifenden Möpse zu sehen, die Geiser so spöttisch und liebevoll beschreibt. Sein neues Buch, ausdrücklich „kein Familienroman“, knüpft an die autobiografischen Romane „Grünsee“ (1978) und „Brachland“ (1980) an. Es beginnt mit dem Tod der Mutter, der den Erzähler tiefer verstört, als er sich je hätte vorstellen können, und der gleichzeitig eine lustvolle, tief melancholische Neugier auf das Jenseits in ihm weckt.

Das „Manzini“, eine Mischung aus Bistro und Wiener Caféhaus, kommt im Roman nicht vor: Es sei kein typischer Berliner Ort, meint Geiser, sondern gut geeignet, um sich von Berlin zu erholen. Der äußerst höfliche, zurückhaltende Sohn einer streng calvinistischen Berner Familie liebt diese „geschundene Stadt, weil sie so gelassen mit ihren Narben lebt, nichts beschönigt oder zukleistert, sondern einfach Neues erfindet auf ihren Brachflächen“. Ohne den unbekümmert-schnoddrigen Berliner Ton hätte er seine Bücher nicht schreiben können, meint er, und ist noch heute dankbar für die Befreiung aus der puritanischen Berner Enge: 1983 landete er als schüchterner, 34-jähriger Autor in einer kahlen DAAD-Wohnung mitten im schwulen Schöneberger Kiez, vor einem Spiegel mit Schlag- und Schmauchspuren, der Rebecca Horn gehört hatte, und der ihm damals ein treffendes Bild für die graue, kaputte Stadt schien.

„Ich hatte schon im Stillen gedacht, was hinter seiner Einzelgängerei eigentlich stecken mochte“, schrieb Christa Wolff nach seinem Besuch (am 27. September 1983). Er konnte ihr, die ihm im bodenlangen, schwarzen Kleid wie eine leibhaftige Kassandra entgegentrat, doch nicht sagen, dass er sein schwules Coming-out herbeisehnte, und sie verstand seine Andeutungen nicht – wie sie vieles nicht zu verstehen schien, zum Beispiel warum er immer vor Mitternacht gehen musste (um 24 Uhr schloss der Checkpoint Charlie), und sie ahnte natürlich nicht, dass im „Blue Boy“ in Schöneberg das Leben erst nach Mitternacht begann. Detailliert und in verstörender Offenheit beschreibt Geiser diese nächtlichen Abenteuer im Roman „Wenn der Mann im Mond erwacht“ (2008), seiner wütenden und endgültigen Befreiung von allen bürgerlichen Denk- und Schreibregeln.

Von „ruhigen und geregelten“ Ausgängen, wie sie der Erzähler in „Schöne Bescherung“ ankündigt, kann im Buch keine Rede sein. Natürlich sind Autor und Erzähler gelassener geworden, die Sätze linearer und geschliffener, der Spott etwas wehmütiger – doch noch immer muss der Erzähler schrecklich über sich lachen, und das am liebsten im falschen Moment. „Der Erzähler bleibt ja nicht in seinem Zimmer! Kafka schrieb in einem Brief, der Schriftsteller dürfe niemals den Schreibtisch verlassen, er muss sich dort festbeißen, damit ihn nicht der Sog des Lebens erfasst und in den Irrsinn schleudert. Aber unser Erzähler klappert beim Schreiben mit den Zähnen und verliert so den Halt“, sagt Christoph Geiser, lacht und drängt zu einem Gang rund um den Ludwigkirchplatz.

Hier fühlt er sich im „wirklichen West-Berlin angekommen, im unzerstörbaren, immerwährenden. Es ist viel erhalten geblieben, aber ich sehe die Bomberstaffeln fliegen, zum Beispiel an der Uhlandstraße sieht man ganz genau, welchen Weg sie genommen haben“, erzählt er beiläufig, während wir, wie sein Erzähler, Herrn Boldts kurios vollgestopften Lampenladen betrachten, das dekorative Beerdigungsinstitut und das (ehemalige) „Pastis“: „Machen wir Rast an Timos Tränke? Der leuchtet so schön auf der anderen Straßenseite, im Schaufenster der Bar, die helle Haut seines ausrasierten Nackens, sein offenes weißes Hemd hinter dem Tresen, als wär er der erste nautische Offizier auf der Brücke und winkte uns rüber, aus dem nebligen Dunst, aufs absinthene Meer …“ In dem warmen, offenen Raum findet der stoffsammelnde Schriftsteller ein fast barockes Welttheater.

Seine Desaster-Sammlung nennt Geiser Berlin ironisch: Ort der größten Niederlagen, aber auch der erfüllten Träume. Bei seinen Besuchen im real existierenden Sozialismus zerbröselten seine Utopien und der Glaube an die politische Aufgabe von Literatur. Doch hier entdeckte er die Museen als seine Lebensorte und verliebte sich heftig in gemalte Personen: in Caravaggios provokanten Amor zum Beispiel, der ihm förmlich entgegenzuspringen schien, während die erste Aids-Welle über die Stadt rollte. Nach der Wende pilgerte er zu Caspar Davids Friedrichs „Mönch am Meer“, einer vereinsamten Person an der Grenze zum Nichts, die Unendlichkeit reflektierend, und zu Menzels „Balkonzimmer“: „Auch ein Vanitas-Bild, ein Haschen nach nichts, nach dem Luftzug, der die Vorhänge bauscht.“ Diese Bildfolge beschreibt auch den Entwicklungsweg seines selbstironischen Helden, den auf seinen abendlichen Spaziergängen plötzlich ein kummergesichtiger Mops als Jenseitsbote begleitet und knurrend beobachtet, wie er sich über die Stolpersteine in den Gehwegen beugt und die Toten leise um ihre widerständige Gemeinschaft beneidet. Und doch durchzieht eine tiefe Heiterkeit diesen Berlin-Roman, der seine vergnügliche Leichtigkeit vor allem den ständigen Sprüngen ins Fantastisch-Geisterhafte verdankt: dort werden die Probleme zwar nicht kleiner – aber luftiger. Nicole Henneberg

„Schöne Bescherung“ ist im Züricher Offizin-Verlag erschienen und kostet 19,80 Euro. Am 21. 11. stellt Christoph Geiser sein Buch in der Kreuzberger Lettrétage am Mehringdamm 61 vor.

Nicole Henneberg

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