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Kaiserliche Größenfantasien. Das babylonische Ischtar-Tor im Pergamonmuseum in Berlin.

©  Imago

Historischer Roman „Babel“: Wie Babylons Schätze nach Berlin kamen

Kenah Cusanit erzählt in ihrem klugen Debütroman „Babel“ von der Wiederentdeckung der antiken Metropole Babylon - und ihrer Verflechtung mit dem Berlin um 1900.

Ein Roman, der „das Fundament von Erde und Himmel“ ergründen will, ist ein verwegenes Unternehmen. Kenah Cusanit, die 1979 geborene Dichterin, Ethnologin und Alt-Orientalistin, hat das Risiko nicht gescheut und sich auf ein mythologisch stark aufgeladenes Gelände gewagt. Ihr Debütroman erzählt von der Ausgrabung der sagenhaften Stadt Babylon und dem wohl berühmtesten Tempelturm der Welt, den in alten Schöpfungsmythen als „Fundament“ und „Himmelsleiter“ verehrten Turm von Babel.

Es ist ein Buch geworden, das die historischen Materialien immer griffbereit hat und souverän mit den kulturgeschichtlichen Fakten jongliert. Cusanits Prosadebüt ist kein geschmeidig erzählter historischer Roman, der vor spektakulärer mesopotamischer Kulisse von den aufregenden Abenteuern großer Archäologen erzählt. Es liefert kein episches Naschwerk, verzichtet auf pointenreich ausgepinselte Episoden und kehrt jeder Form von orientalistischer Heldenlegende den Rücken zu. Stattdessen wird die selbstreflexive Denkbewegung zur erzählerischen Strategie.

Roman von der archäologischen Vermessung der Welt

Man findet in diesem Roman keine Beschreibung, die nicht flankiert wäre von Reflexionen zu den kognitiven Voraussetzungen des Sehens, Fühlens und Erkennens. „Babel“ ist eine mit Gelehrsamkeit gespickte Kultur- und Denkgeschichte mit narrativen Mitteln, ein auf Ernüchterung angelegter Wissenschaftskrimi, der in extrem verdichteten Szenen das Jahr 1913 als Achsenzeit der Welterkenntnis beschreibt. Und es ist ein Roman, der von der Blütezeit der populären Kolonialkultur berichtet, von der archäologischen Vermessung und Aneignung der Welt.

Mit der historischen Figur Robert Koldewey steht ein prominenter Archäologe im Mittelpunkt des Romans. Sein Forscherehrgeiz beschränkt sich aber nicht auf Fragen der Kartografierung und auf Grabungstechniken, sondern kreist immer auch um die Erkenntnisleistungen der Medizin und der Mathematik und um die Veränderungen der Wahrnehmung durch seinerzeit revolutionäre Medien wie die Fotografie und den Film. Koldewey, ein brillanter Kopf, ist Leiter der Expedition, die von 1899 an bis in den Ersten Weltkrieg hinein die Ausgrabung Babylons durchführte. Im Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris, unweit von Bagdad, der Gegend, die bis heute als Kernland der Zivilisation gilt, arbeitet er an der Freilegung eines sensationellen Funds, der archäologischen Erschließung der „Stadt der Städte“.

Auf den ersten 150 Seiten passiert wenig

Der Universalgelehrte Koldewey ist im Zweistromland des Jahres 1913 aber nicht auf eigene Rechnung unterwegs, sondern erfüllt mit seinem archäologischen Kraftakt auch eine kolonialistische Größenfantasie des orientbegeisterten Kaisers Wilhelm II. Im Wettlauf mit den Rivalen England und Frankreich sollen die architektonischen Prunkstücke Babylons ans Tageslicht gehoben und in unzähligen Kisten verpackt auf dem Schiffsweg nach Berlin geschafft werden. Und das mit Erfolg. Bis heute sind das Ischtar-Tor, eines der Stadttore des alten Babylon, und die Prozessionsstraße im Vorderasiatischen Museum auf der Museumsinsel zu besichtigen. All diese kulturanthropologischen Fakten und Mythen rund um Babylon bilden die Basis für Cusanits weitverzweigte Reflexionen zur Orient-Begeisterung und zum Welteroberungsehrgeiz der europäischen Wissenschaften zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Wie seine beiden Mitstreiter Gottfried Buddensieg und Walther Andrae laboriert Koldewey an diversen Krankheiten, die er durch kühne Experimente am eigenen Körper selbst provoziert hat. Das Grundlagenwerk, das er ständig zurate zieht, ist nicht aus dem archäologischen Fach, sondern ein „Grundriss der inneren Medizin“. So fabulieren Cusanits Helden eben nicht nur über die Entzifferung der Keilschrift, die Eroberung Jerusalems durch Nebukadnezar und die Ausdehnung und Höhe des Turms von Babel, sondern auch über die Begleiterscheinungen einer Blinddarmentzündung. Auf den ersten 150 Seiten des Romans geschieht wenig: Wir erleben den gesundheitlich angeschlagenen Koldewey, wie er aus dem Fenster seines Arbeitszimmers auf das legendäre Terrain Babels blickt und die Baufortschritte begrübelt.

En passant erfahren wir, dass der Sintflut-Mythos der Bibel bereits in mesopotamischen Schöpfungserzählungen vorweggenommen wurde. So war der einsame Kapitän der Arche nicht etwa der biblische Noah, sondern Utnapischtim, der auserwählte Held des Gilgamesch- Epos. Gegen Ende wechselt der Roman den Schauplatz und schwenkt von der babylonischen Baustelle in die „Elektropolis“ Berlin des Jahres 1909, in der gerade durch die Etablierung der elektrischen Straßenbahn und die ersten Automobile das Zeitalter der Beschleunigung eingeläutet wird. Cusanit liefert ein Doppelporträt zweier Metropolen an der Schwelle zu einer neuen Epoche, markiert als Ungleichung: „Berlin? Babylon“.

Am Beginn des Millenniums münden hier die zügellose westliche Orient-Begeisterung und die Erfindung der neuen Elektrotechniken und Kommunikationsmedien in die technische Vorbereitung des Großen Krieges. Im Gespräch Koldeweys mit dem Kaiser werden schließlich die Schrecken einer zerstörerischen Zukunft antizipiert: „Bis dann jemand Berlin unter Trümmern ausgrabe.“ So liefert dieser ideenreiche, die europäische Wissenschafts- und Kolonialgeschichte auslotende Gedanken-Roman, der mit vielen Regeln der Gattung bricht, auch ein verstecktes Porträt unserer „flüchtigen Gegenwart“.

Kenah Cusanit: Babel. Roman. Carl Hanser Verlag, München 2019, 270 S., 23 Euro

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